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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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hat ganz mit Recht nur einen ganz flüchtigen Umriß davon gegeben. Er hat nicht
verfehlt, in jedem einzelnen Punkt darauf aufmerksam zu machen, wie den einzel¬
nen Momenten der poetischen Entwicklung irgend ein Zug im wirklichen Leben
correspondirt, aber er legt keinen großen Accent darauf. Daß Shakespeare große
Leidenschaften und auch große Schicksale durchgemacht haben muß, sieht jeder Leser,
der nicht gerade ein Kind ist; aber welcher Art diese waren, darüber haben wir
nur unzuverlässige Traditionen. In wie fern Shakespeare durch die großen Ge¬
schicke seiner Zeit influirt ist, darauf hat Gervinus, bei seiner pragmatischen
Richtung, nicht das Gewicht gelegt, welches der philosophische Geschichtsschreiber
fordern würde. Ich werde in dem zweiten Theil meiner Arbeit diesen philosophi¬
schen Standpunkt der Kritik anzudeuten versuchen. Vorher müssen wir aber über
den eignen Standpunkt der Schrift und dessen Berechtigung uns ein Verständniß
gewinnen.




Der Pragmatismus und die Geschichte.

Bei einem Manne, der so ganz aus Einem Guß ist, wie Gervinus, läßt
sich erwarten, daß die Maxime seiner historischen Darstellung mit der seines wirk¬
lichen politischen Lebens zusammenfallen werde. Nirgend ist das so anschaulich
geworden, als in seiner Redaction der deutschen Zeitung.

Ich nannte seinen Standpunkt den pragmatischen. Dieser Begriff, ur¬
sprünglich zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Erscheinung gebraucht, hat in
der spätern Anwendung, wie es zu geschehen pflegt, einen allgemeinern Umfang
gewonnen. So viel ich weiß, wurde er zuerst an das Geschichtswerk des Poly-
bius gelegt, um dasselbe von dem epischen oder novellistischen Charakter der frü¬
hern Historie zu unterscheiden: als ein Buch, das auf die Belehrung eines Staats¬
mannes berechnet sei. Der Gegensatz des reflectirten Polybius zu einer naiven
Erzählung, wie der des Herodot oder des Zümophon, springt unmittelbar in die
Auge"; wenn man ihn dagegen mit einem Thucydides vergleicht, so erlangt er
eine höhere, eine formale Bedeutung, welche die Griechen sehr wohl an eine
äußerliche Bezeichnung zu knüpfen verstanden. Denn was den Inhalt betrifft, so
wird der denkende Staatsmann wohl aus dem Thucydides eben so viel Belehrung
zu schöpfen versteh", als aus dem Polybius.

Die Sache ist diese. Die früheren Geschichtsschreiber gaben die Thatsachen
in ihrer bunten Mannigfaltigkeit, wie sie sich darboten, nur mit der Rücksicht
künstlerischer Komposition. Sie suchten sich des innern sittlichen Zusammenhangs
eben so wenig bewußt zu werden, als der Differenz zwischen den verschiedenen
ethischen Weltanschauungen, die in der Geschichte collidiren. Denn ein solches
Bewußtsein tritt erst dann ein, wenn durch eine äußerliche Thatsache der Gegen-


hat ganz mit Recht nur einen ganz flüchtigen Umriß davon gegeben. Er hat nicht
verfehlt, in jedem einzelnen Punkt darauf aufmerksam zu machen, wie den einzel¬
nen Momenten der poetischen Entwicklung irgend ein Zug im wirklichen Leben
correspondirt, aber er legt keinen großen Accent darauf. Daß Shakespeare große
Leidenschaften und auch große Schicksale durchgemacht haben muß, sieht jeder Leser,
der nicht gerade ein Kind ist; aber welcher Art diese waren, darüber haben wir
nur unzuverlässige Traditionen. In wie fern Shakespeare durch die großen Ge¬
schicke seiner Zeit influirt ist, darauf hat Gervinus, bei seiner pragmatischen
Richtung, nicht das Gewicht gelegt, welches der philosophische Geschichtsschreiber
fordern würde. Ich werde in dem zweiten Theil meiner Arbeit diesen philosophi¬
schen Standpunkt der Kritik anzudeuten versuchen. Vorher müssen wir aber über
den eignen Standpunkt der Schrift und dessen Berechtigung uns ein Verständniß
gewinnen.




Der Pragmatismus und die Geschichte.

Bei einem Manne, der so ganz aus Einem Guß ist, wie Gervinus, läßt
sich erwarten, daß die Maxime seiner historischen Darstellung mit der seines wirk¬
lichen politischen Lebens zusammenfallen werde. Nirgend ist das so anschaulich
geworden, als in seiner Redaction der deutschen Zeitung.

Ich nannte seinen Standpunkt den pragmatischen. Dieser Begriff, ur¬
sprünglich zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Erscheinung gebraucht, hat in
der spätern Anwendung, wie es zu geschehen pflegt, einen allgemeinern Umfang
gewonnen. So viel ich weiß, wurde er zuerst an das Geschichtswerk des Poly-
bius gelegt, um dasselbe von dem epischen oder novellistischen Charakter der frü¬
hern Historie zu unterscheiden: als ein Buch, das auf die Belehrung eines Staats¬
mannes berechnet sei. Der Gegensatz des reflectirten Polybius zu einer naiven
Erzählung, wie der des Herodot oder des Zümophon, springt unmittelbar in die
Auge»; wenn man ihn dagegen mit einem Thucydides vergleicht, so erlangt er
eine höhere, eine formale Bedeutung, welche die Griechen sehr wohl an eine
äußerliche Bezeichnung zu knüpfen verstanden. Denn was den Inhalt betrifft, so
wird der denkende Staatsmann wohl aus dem Thucydides eben so viel Belehrung
zu schöpfen versteh», als aus dem Polybius.

Die Sache ist diese. Die früheren Geschichtsschreiber gaben die Thatsachen
in ihrer bunten Mannigfaltigkeit, wie sie sich darboten, nur mit der Rücksicht
künstlerischer Komposition. Sie suchten sich des innern sittlichen Zusammenhangs
eben so wenig bewußt zu werden, als der Differenz zwischen den verschiedenen
ethischen Weltanschauungen, die in der Geschichte collidiren. Denn ein solches
Bewußtsein tritt erst dann ein, wenn durch eine äußerliche Thatsache der Gegen-


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[0242] hat ganz mit Recht nur einen ganz flüchtigen Umriß davon gegeben. Er hat nicht verfehlt, in jedem einzelnen Punkt darauf aufmerksam zu machen, wie den einzel¬ nen Momenten der poetischen Entwicklung irgend ein Zug im wirklichen Leben correspondirt, aber er legt keinen großen Accent darauf. Daß Shakespeare große Leidenschaften und auch große Schicksale durchgemacht haben muß, sieht jeder Leser, der nicht gerade ein Kind ist; aber welcher Art diese waren, darüber haben wir nur unzuverlässige Traditionen. In wie fern Shakespeare durch die großen Ge¬ schicke seiner Zeit influirt ist, darauf hat Gervinus, bei seiner pragmatischen Richtung, nicht das Gewicht gelegt, welches der philosophische Geschichtsschreiber fordern würde. Ich werde in dem zweiten Theil meiner Arbeit diesen philosophi¬ schen Standpunkt der Kritik anzudeuten versuchen. Vorher müssen wir aber über den eignen Standpunkt der Schrift und dessen Berechtigung uns ein Verständniß gewinnen. Der Pragmatismus und die Geschichte. Bei einem Manne, der so ganz aus Einem Guß ist, wie Gervinus, läßt sich erwarten, daß die Maxime seiner historischen Darstellung mit der seines wirk¬ lichen politischen Lebens zusammenfallen werde. Nirgend ist das so anschaulich geworden, als in seiner Redaction der deutschen Zeitung. Ich nannte seinen Standpunkt den pragmatischen. Dieser Begriff, ur¬ sprünglich zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Erscheinung gebraucht, hat in der spätern Anwendung, wie es zu geschehen pflegt, einen allgemeinern Umfang gewonnen. So viel ich weiß, wurde er zuerst an das Geschichtswerk des Poly- bius gelegt, um dasselbe von dem epischen oder novellistischen Charakter der frü¬ hern Historie zu unterscheiden: als ein Buch, das auf die Belehrung eines Staats¬ mannes berechnet sei. Der Gegensatz des reflectirten Polybius zu einer naiven Erzählung, wie der des Herodot oder des Zümophon, springt unmittelbar in die Auge»; wenn man ihn dagegen mit einem Thucydides vergleicht, so erlangt er eine höhere, eine formale Bedeutung, welche die Griechen sehr wohl an eine äußerliche Bezeichnung zu knüpfen verstanden. Denn was den Inhalt betrifft, so wird der denkende Staatsmann wohl aus dem Thucydides eben so viel Belehrung zu schöpfen versteh», als aus dem Polybius. Die Sache ist diese. Die früheren Geschichtsschreiber gaben die Thatsachen in ihrer bunten Mannigfaltigkeit, wie sie sich darboten, nur mit der Rücksicht künstlerischer Komposition. Sie suchten sich des innern sittlichen Zusammenhangs eben so wenig bewußt zu werden, als der Differenz zwischen den verschiedenen ethischen Weltanschauungen, die in der Geschichte collidiren. Denn ein solches Bewußtsein tritt erst dann ein, wenn durch eine äußerliche Thatsache der Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/242>, abgerufen am 05.02.2025.