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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Berlins neue Physiognomie.



it.

Sollte es auch noch einmal dahin kommen, daß die schlanken Taillen der
Gardelieutenants mit dem Gefolge von dressirten Bauersöhnen Berlin den alten
aristokratischen Anstrich zurückgeben, so wird doch das eigenthümliche Gesicht, das
Berlin diese Wochen über annahm, zum Behuf der historischen Reminiscenz immer
eines Daguerreotyps werth sein. Denn eine wunderbarere Verwandlung läßt sich
nicht wohl denken, als sich in den etwas blasirten, aristokratisch fatiguirten Zügen
unserer für ihre Größe noch immer jungen Residenz geltend gemacht hat.

Schon einige Stationen vor der Stadt merkt man, daß etwas Außerordent¬
liches vorgefallen sein muß. Herren von der königl. preuß. Regierung sprechen von
der Revolution als einer gloriosen That, und die burschenschaftliche Cocarde ist
nicht nur auf ihrem Hut, sondern auch in ihren Zungen. Süße Reminiscenz ver¬
schrobener Jugendtage! Ich werde dich nicht mehr aufstecken, seitdem du officiell
geworden bist. Ein Haufen Soldaten schloß sich unterwegs unserm Zuge an, ein
Student mit der deutschen Tricolore voran, die Soldaten Arm in Arm mit Civi¬
listen. Alles in einer Art Rausch, der über der Sympolik der neu errungenen
Freiheit den Ernst der Realität vergessen zu haben schien. Einige Berliner, die
von einem kurzen Ausflug zurückkehrten, theilten uns einzelne Züge von der glor¬
reichen Revolution des 18. März mit. Man hat gegen Strauß und seine An¬
hänger heftig polemisirt, daß er eine ausführlich aufgeschriebene Geschichte zu
einem Mythus habe herabsetzen wollen. Bei Emeuten kehrt sich auch in unserer
prosaischen Zeit, die ihre Register für jedes Evenement in Bereitschaft hat, die
augenblicklich Stenographen zusammentrommelt, wenn ein Seifensieder oder der
Mitarbeiter irgend eines Nvlksblattes sich über den Nutzen der Freiheit, der Tu¬
gend, der guten Gesinnung vernehmen läßt -- selbst in unserem gewissenhaften
Säculum kehrt sich in Augenblicken, wo die ursprüngliche Poesie der That plötzlich
aus dem organischen Naturwuchs der alten, faulen Solidität emporschnellt, eben
so die ursprüngliche Poesie der "mythenbildenden Substanz" heraus, und es wird
einem künftigen Ranke schwer werden, auf officiellen Urkunden eine diplomatisch


Berlins neue Physiognomie.



it.

Sollte es auch noch einmal dahin kommen, daß die schlanken Taillen der
Gardelieutenants mit dem Gefolge von dressirten Bauersöhnen Berlin den alten
aristokratischen Anstrich zurückgeben, so wird doch das eigenthümliche Gesicht, das
Berlin diese Wochen über annahm, zum Behuf der historischen Reminiscenz immer
eines Daguerreotyps werth sein. Denn eine wunderbarere Verwandlung läßt sich
nicht wohl denken, als sich in den etwas blasirten, aristokratisch fatiguirten Zügen
unserer für ihre Größe noch immer jungen Residenz geltend gemacht hat.

Schon einige Stationen vor der Stadt merkt man, daß etwas Außerordent¬
liches vorgefallen sein muß. Herren von der königl. preuß. Regierung sprechen von
der Revolution als einer gloriosen That, und die burschenschaftliche Cocarde ist
nicht nur auf ihrem Hut, sondern auch in ihren Zungen. Süße Reminiscenz ver¬
schrobener Jugendtage! Ich werde dich nicht mehr aufstecken, seitdem du officiell
geworden bist. Ein Haufen Soldaten schloß sich unterwegs unserm Zuge an, ein
Student mit der deutschen Tricolore voran, die Soldaten Arm in Arm mit Civi¬
listen. Alles in einer Art Rausch, der über der Sympolik der neu errungenen
Freiheit den Ernst der Realität vergessen zu haben schien. Einige Berliner, die
von einem kurzen Ausflug zurückkehrten, theilten uns einzelne Züge von der glor¬
reichen Revolution des 18. März mit. Man hat gegen Strauß und seine An¬
hänger heftig polemisirt, daß er eine ausführlich aufgeschriebene Geschichte zu
einem Mythus habe herabsetzen wollen. Bei Emeuten kehrt sich auch in unserer
prosaischen Zeit, die ihre Register für jedes Evenement in Bereitschaft hat, die
augenblicklich Stenographen zusammentrommelt, wenn ein Seifensieder oder der
Mitarbeiter irgend eines Nvlksblattes sich über den Nutzen der Freiheit, der Tu¬
gend, der guten Gesinnung vernehmen läßt — selbst in unserem gewissenhaften
Säculum kehrt sich in Augenblicken, wo die ursprüngliche Poesie der That plötzlich
aus dem organischen Naturwuchs der alten, faulen Solidität emporschnellt, eben
so die ursprüngliche Poesie der „mythenbildenden Substanz" heraus, und es wird
einem künftigen Ranke schwer werden, auf officiellen Urkunden eine diplomatisch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/17>, abgerufen am 29.06.2024.