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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Grinnerungen an Achin von Arnim

Bettina und ihr "Freund." -- Arnim's äußeres Leben. -- Das Jahr 1806. -- Die
Romantiker und die heutigen Berliner. -- Weltbürgerthum. -- Die Reactionen nach der
Schlacht bei Jena. -- Des "Knaben Wunderhorn" und Herder's "Stimmen der Völ¬
ker." -- Ein Ausspruch Goethe's. -- Romantik und Aufklärung. -- Copie der Re¬
naissance-Schriftsteller. -- Arnim und die holländischen Maler. -- Die Schaubühne
und die Tieck'sche Ironie. -- Gräfin Dolores. -- Halle und Jerusalem. -- Die
Kroncnwächter. -- Novellen. -- Schlußbemcrkungcn.

Es sind jetzt zwölf Jahre her, als ein seltsames Buch die deutschen
Literaten in Verwunderung setzte. Es hieß: "Briefwechsel Goethe's mit
einem Kinde" und enthielt ein seltsames Liebesverhältniß, das in den Jah¬
ren 1807 -- 9 zwischen dem sechzigjährigen Dichter und einem denn doch
zwanzigjährigen Kinde stattgefunden hatte. Es war eine sonderbare Art von
Liebe, ans ein rein geistiges Verhältniß basirt, und doch höchst sinnlicher Natur.
Das Gedicht war reich an sinnigen Naturanschauungen, kühnen Apercus, aber
aus dem Ganzen konnte man keinen rechten Vers machen; Empfindungen,
Gedichte, Erlebnisse verschwammen in einander, Traum und Wirklichkeit
war durch keine scharfe Scheidewand von einander getrennt. Aber eine
warme, erquickende Frühlingsluft wehte durch dieses verworrene Gespinnst;
ich las es in einem Winter, der zwischen 24 und 28° Kälte schwankte, und
es malte mein Zimmer mit grünen, blühenden Linden und dunkeln Tan¬
nen aus.

"Dieses Buch ist für die Gute", lind nicht für die Bösen," hatte
Bettina als Motto ihrem Werke vorangesetzt. Und in der That, die sitt¬
liche Tendenz mußte mit genial frommen Angen angeschaut werden, wenn
man nicht auf wunderliche Gedanken gerathen sollte. Denn einzelne Briefe



*) Bei Gelegenheit der Sammlung seiner sämmtlichen Werke, von der so eben der
neunzehnte Band die Presse verläßt. (Berlin 1847. Expedition des von ArnimMm
Verlags.)
GrenMc". II. 43
Grinnerungen an Achin von Arnim

Bettina und ihr „Freund." — Arnim's äußeres Leben. — Das Jahr 1806. — Die
Romantiker und die heutigen Berliner. — Weltbürgerthum. — Die Reactionen nach der
Schlacht bei Jena. — Des „Knaben Wunderhorn" und Herder's „Stimmen der Völ¬
ker." — Ein Ausspruch Goethe's. — Romantik und Aufklärung. — Copie der Re¬
naissance-Schriftsteller. — Arnim und die holländischen Maler. — Die Schaubühne
und die Tieck'sche Ironie. — Gräfin Dolores. — Halle und Jerusalem. — Die
Kroncnwächter. — Novellen. — Schlußbemcrkungcn.

Es sind jetzt zwölf Jahre her, als ein seltsames Buch die deutschen
Literaten in Verwunderung setzte. Es hieß: „Briefwechsel Goethe's mit
einem Kinde" und enthielt ein seltsames Liebesverhältniß, das in den Jah¬
ren 1807 — 9 zwischen dem sechzigjährigen Dichter und einem denn doch
zwanzigjährigen Kinde stattgefunden hatte. Es war eine sonderbare Art von
Liebe, ans ein rein geistiges Verhältniß basirt, und doch höchst sinnlicher Natur.
Das Gedicht war reich an sinnigen Naturanschauungen, kühnen Apercus, aber
aus dem Ganzen konnte man keinen rechten Vers machen; Empfindungen,
Gedichte, Erlebnisse verschwammen in einander, Traum und Wirklichkeit
war durch keine scharfe Scheidewand von einander getrennt. Aber eine
warme, erquickende Frühlingsluft wehte durch dieses verworrene Gespinnst;
ich las es in einem Winter, der zwischen 24 und 28° Kälte schwankte, und
es malte mein Zimmer mit grünen, blühenden Linden und dunkeln Tan¬
nen aus.

„Dieses Buch ist für die Gute», lind nicht für die Bösen," hatte
Bettina als Motto ihrem Werke vorangesetzt. Und in der That, die sitt¬
liche Tendenz mußte mit genial frommen Angen angeschaut werden, wenn
man nicht auf wunderliche Gedanken gerathen sollte. Denn einzelne Briefe



*) Bei Gelegenheit der Sammlung seiner sämmtlichen Werke, von der so eben der
neunzehnte Band die Presse verläßt. (Berlin 1847. Expedition des von ArnimMm
Verlags.)
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[0333] Grinnerungen an Achin von Arnim Bettina und ihr „Freund." — Arnim's äußeres Leben. — Das Jahr 1806. — Die Romantiker und die heutigen Berliner. — Weltbürgerthum. — Die Reactionen nach der Schlacht bei Jena. — Des „Knaben Wunderhorn" und Herder's „Stimmen der Völ¬ ker." — Ein Ausspruch Goethe's. — Romantik und Aufklärung. — Copie der Re¬ naissance-Schriftsteller. — Arnim und die holländischen Maler. — Die Schaubühne und die Tieck'sche Ironie. — Gräfin Dolores. — Halle und Jerusalem. — Die Kroncnwächter. — Novellen. — Schlußbemcrkungcn. Es sind jetzt zwölf Jahre her, als ein seltsames Buch die deutschen Literaten in Verwunderung setzte. Es hieß: „Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde" und enthielt ein seltsames Liebesverhältniß, das in den Jah¬ ren 1807 — 9 zwischen dem sechzigjährigen Dichter und einem denn doch zwanzigjährigen Kinde stattgefunden hatte. Es war eine sonderbare Art von Liebe, ans ein rein geistiges Verhältniß basirt, und doch höchst sinnlicher Natur. Das Gedicht war reich an sinnigen Naturanschauungen, kühnen Apercus, aber aus dem Ganzen konnte man keinen rechten Vers machen; Empfindungen, Gedichte, Erlebnisse verschwammen in einander, Traum und Wirklichkeit war durch keine scharfe Scheidewand von einander getrennt. Aber eine warme, erquickende Frühlingsluft wehte durch dieses verworrene Gespinnst; ich las es in einem Winter, der zwischen 24 und 28° Kälte schwankte, und es malte mein Zimmer mit grünen, blühenden Linden und dunkeln Tan¬ nen aus. „Dieses Buch ist für die Gute», lind nicht für die Bösen," hatte Bettina als Motto ihrem Werke vorangesetzt. Und in der That, die sitt¬ liche Tendenz mußte mit genial frommen Angen angeschaut werden, wenn man nicht auf wunderliche Gedanken gerathen sollte. Denn einzelne Briefe *) Bei Gelegenheit der Sammlung seiner sämmtlichen Werke, von der so eben der neunzehnte Band die Presse verläßt. (Berlin 1847. Expedition des von ArnimMm Verlags.) GrenMc». II. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/333>, abgerufen am 29.06.2024.