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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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modernes, wohlbekanntes Procotyp, und doch ist dieser pietistische General
Rieger und dieser junkerhafte Hauptmann Silberstein in den Straßen
unserer Hauptstädte leicht zu finden. Die Dresdner sagten von mehrern
Stellen der Karlsschülcr, es sei "starker Taback." Nun denn, schnupft,
rief't und -- helf Gott!

Gespiele wird dieses Stück in Dresden mit großer Präcision, ob¬
gleich es an andern Bühnen, wo der erste Liebhaber weniger naiv und
selbstbewußt ist, wahrscheinlich noch besser gespielt werden kann. Die
weiblichen Rollen sind vortrefflich besetzt. Wir haben Fräulein Bayer nach
Jahren ein Mal wiedergesehen und waren erstaunt über die treffliche Ent¬
wickelung dieses großen Talents. Auch Fräulein Berg und Lebrun wa¬
ren voll Einfachheit und Wahrheit. Die Herren hingegen durchweg mit¬
telmäßig; Herr Emil Devricnr gradezu unausstehlich. Dieser Schauspie¬
ler scheint drei bis vier numerirte Schubladen für alle Rollen zu haben,
das ist der Posa-Schubladen, der Richard Wanderer-Schubladen, der
Polimbroke-Schubladen und der: Sie ist wahnsinnig-Schubladen; was
dazwischen liegt, wird nicht anerkannt^ Frühstück, Mittagmal, Vesperbrod
oder Nachtmal, phlegmatisch, cholerisch, sanguinisch, melancholisch -- eins
von den Vieren steckt in dem Thiere, denkt Herr Emil Devrient. Ach
und weh dem Thiere, in dem eine fünfte Nuance steckt: rein dich oder
ich frefi dich. Der Schiller des Herrn Emil Devrient war ungereimt.


V.
Waiblingers Grab.

Alljährlich wandern viele Deutsche nach Italien, um ihre schönen
Träume unter dem lachenden Himmel des Südens zu verwirklichen. In
den Abenden des Winters sitzen sie daheim und beginnen ihre Studien,
um die Reise, ausgerüstet mit Allem, was Natur, Kunst und Alterthum
in reicher Fülle dem Fremden dort bieten, durchdringend und kundig zu
genießen. Wer greift da nicht nach den Werken Waiblingers, dem jun¬
gen hoffnungsvollen Dichter, dessen stürmischer Geist nicht Rast noch
Ruhe fand in dem Brausen des tobenden Lebens, der geworfen wurde,
wie die Welle des Meeres, bis er zerbrach und zerstieb an den felsigen
Gestaden des Schicksals?

Wie erwärmend und beglückend sind seine glühenden Beschreibungen
Italiens. Jener wunderbare Aether, der über Feld und See und an den
Bergen dieses Landes liegt, hat uns Waiblinger mit einer echten Mei¬
sterhand hingezaubert. In seinen Schriften finden wir den wirkli¬
chen Himmel Italiens erschlossen und wärmen uns in unserm nordischen
Winter an der Sprache seines feurigen Herzens.

So werden auch viele Reisende sein Grab suchen, wenn sie nach
Rom kommen, um hier ihm still zu danken für den Genuß, den er ih¬
nen jenseits der Berge bereitet hat. Auch ich wanderte, eingedenk der
Beschreibung seiner stillen Gruft, hinaus an die Porta ti Se. Paolo
entlang zur Pyramide des Cestius, um hier an drei Gräbern zurückden¬
kend zu verweilen. Drei Gräber dreier junger Dichter, alle drei vielfach
im Leben verkannt, alle drei fern von ihrer Heimat begraben, alle drei
untergegangen im Wellenschlage des kämpfenden Geistes. Und die drei


modernes, wohlbekanntes Procotyp, und doch ist dieser pietistische General
Rieger und dieser junkerhafte Hauptmann Silberstein in den Straßen
unserer Hauptstädte leicht zu finden. Die Dresdner sagten von mehrern
Stellen der Karlsschülcr, es sei „starker Taback." Nun denn, schnupft,
rief't und — helf Gott!

Gespiele wird dieses Stück in Dresden mit großer Präcision, ob¬
gleich es an andern Bühnen, wo der erste Liebhaber weniger naiv und
selbstbewußt ist, wahrscheinlich noch besser gespielt werden kann. Die
weiblichen Rollen sind vortrefflich besetzt. Wir haben Fräulein Bayer nach
Jahren ein Mal wiedergesehen und waren erstaunt über die treffliche Ent¬
wickelung dieses großen Talents. Auch Fräulein Berg und Lebrun wa¬
ren voll Einfachheit und Wahrheit. Die Herren hingegen durchweg mit¬
telmäßig; Herr Emil Devricnr gradezu unausstehlich. Dieser Schauspie¬
ler scheint drei bis vier numerirte Schubladen für alle Rollen zu haben,
das ist der Posa-Schubladen, der Richard Wanderer-Schubladen, der
Polimbroke-Schubladen und der: Sie ist wahnsinnig-Schubladen; was
dazwischen liegt, wird nicht anerkannt^ Frühstück, Mittagmal, Vesperbrod
oder Nachtmal, phlegmatisch, cholerisch, sanguinisch, melancholisch — eins
von den Vieren steckt in dem Thiere, denkt Herr Emil Devrient. Ach
und weh dem Thiere, in dem eine fünfte Nuance steckt: rein dich oder
ich frefi dich. Der Schiller des Herrn Emil Devrient war ungereimt.


V.
Waiblingers Grab.

Alljährlich wandern viele Deutsche nach Italien, um ihre schönen
Träume unter dem lachenden Himmel des Südens zu verwirklichen. In
den Abenden des Winters sitzen sie daheim und beginnen ihre Studien,
um die Reise, ausgerüstet mit Allem, was Natur, Kunst und Alterthum
in reicher Fülle dem Fremden dort bieten, durchdringend und kundig zu
genießen. Wer greift da nicht nach den Werken Waiblingers, dem jun¬
gen hoffnungsvollen Dichter, dessen stürmischer Geist nicht Rast noch
Ruhe fand in dem Brausen des tobenden Lebens, der geworfen wurde,
wie die Welle des Meeres, bis er zerbrach und zerstieb an den felsigen
Gestaden des Schicksals?

Wie erwärmend und beglückend sind seine glühenden Beschreibungen
Italiens. Jener wunderbare Aether, der über Feld und See und an den
Bergen dieses Landes liegt, hat uns Waiblinger mit einer echten Mei¬
sterhand hingezaubert. In seinen Schriften finden wir den wirkli¬
chen Himmel Italiens erschlossen und wärmen uns in unserm nordischen
Winter an der Sprache seines feurigen Herzens.

So werden auch viele Reisende sein Grab suchen, wenn sie nach
Rom kommen, um hier ihm still zu danken für den Genuß, den er ih¬
nen jenseits der Berge bereitet hat. Auch ich wanderte, eingedenk der
Beschreibung seiner stillen Gruft, hinaus an die Porta ti Se. Paolo
entlang zur Pyramide des Cestius, um hier an drei Gräbern zurückden¬
kend zu verweilen. Drei Gräber dreier junger Dichter, alle drei vielfach
im Leben verkannt, alle drei fern von ihrer Heimat begraben, alle drei
untergegangen im Wellenschlage des kämpfenden Geistes. Und die drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/311>, abgerufen am 23.07.2024.