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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Viehoff s<Uria,leeren;gen Goethescher Gedichte.^)



Das Vorwort des Verfassers gibt über den Grund, Sinn und
Zweck des Commentars zu Goethe's Gedichten klare und verständige
Rechenschaft; das Unternehmen entspricht einem gegründeten Bedürfniß
und begegnet richtigen Erwartungen; wir können hinzufügen, daß die
Ausführung durch Einsicht und Sorgfalt eine gelungene heißen kann.

In der Jugend lesen wir unsere Dichter freilich ohne allen Com-
mentar', wir folgen ihnen entzückt durch Hell und Dunkel, und das
Uebermaß des Genusses, den wir aus dem Verstandenen schöpfen, führt
uns über das weniger Klare leicht hinweg, ja nicht selten liegt auch
in diesem noch ein Reiz des Ahndungsvollen, der den Genuß erhöht.
Ebenso wenig, wie das allseitige Verständniß des Inhalts, kümmert
uns der tiefe Bezug des Gedichts zu dem Dichter, wir singen sein Lied
und fragen nicht wie es entstanden sei, nur feiern wohl den Namen
des Dichters, aber lassen es bei dem Namen bewenden.

Dies Ergreifen der bloßen Sache in ihrem groben Sein, ohne
Sorge wegen ihres Zusammenhanges und ohne Rückblick auf ihren
Urheber, findet sich auch in ganzen Zeitaltern, in solchen nämlich, welche
noch die Kindlichkeit eines unreifen Zustandes darstellen, und daher
überhaupt im Volksleben, sofern es mehr oder minder stets einem sol¬
chen Zustande angehört. Alls diesem Grunde wissen wir auch so we¬
nig über die Entstehung der großen Urdichtuugen, über die Dichter der
Ilias und Odyssee, der Gesänge vom Eid, der Nibelungen; und so
singt noch immer das Volk froh lind fromm seine Welt- und Kirchen¬
lieder, wie sie das fliegende Blatt und das Gesangbuch namenlos dar-



*) Goethe's Gedichte, erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und
Vorbilder zurückgeführt, nebst Bariantcnsammlung und Nachlese, von Heinrich
Vieh off. Erster Theil. Periode der Naturpoesie. 1765--178Z. Düsseldorf 1846.12.
Viehoff s<Uria,leeren;gen Goethescher Gedichte.^)



Das Vorwort des Verfassers gibt über den Grund, Sinn und
Zweck des Commentars zu Goethe's Gedichten klare und verständige
Rechenschaft; das Unternehmen entspricht einem gegründeten Bedürfniß
und begegnet richtigen Erwartungen; wir können hinzufügen, daß die
Ausführung durch Einsicht und Sorgfalt eine gelungene heißen kann.

In der Jugend lesen wir unsere Dichter freilich ohne allen Com-
mentar', wir folgen ihnen entzückt durch Hell und Dunkel, und das
Uebermaß des Genusses, den wir aus dem Verstandenen schöpfen, führt
uns über das weniger Klare leicht hinweg, ja nicht selten liegt auch
in diesem noch ein Reiz des Ahndungsvollen, der den Genuß erhöht.
Ebenso wenig, wie das allseitige Verständniß des Inhalts, kümmert
uns der tiefe Bezug des Gedichts zu dem Dichter, wir singen sein Lied
und fragen nicht wie es entstanden sei, nur feiern wohl den Namen
des Dichters, aber lassen es bei dem Namen bewenden.

Dies Ergreifen der bloßen Sache in ihrem groben Sein, ohne
Sorge wegen ihres Zusammenhanges und ohne Rückblick auf ihren
Urheber, findet sich auch in ganzen Zeitaltern, in solchen nämlich, welche
noch die Kindlichkeit eines unreifen Zustandes darstellen, und daher
überhaupt im Volksleben, sofern es mehr oder minder stets einem sol¬
chen Zustande angehört. Alls diesem Grunde wissen wir auch so we¬
nig über die Entstehung der großen Urdichtuugen, über die Dichter der
Ilias und Odyssee, der Gesänge vom Eid, der Nibelungen; und so
singt noch immer das Volk froh lind fromm seine Welt- und Kirchen¬
lieder, wie sie das fliegende Blatt und das Gesangbuch namenlos dar-



*) Goethe's Gedichte, erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und
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[0210] Viehoff s<Uria,leeren;gen Goethescher Gedichte.^) Das Vorwort des Verfassers gibt über den Grund, Sinn und Zweck des Commentars zu Goethe's Gedichten klare und verständige Rechenschaft; das Unternehmen entspricht einem gegründeten Bedürfniß und begegnet richtigen Erwartungen; wir können hinzufügen, daß die Ausführung durch Einsicht und Sorgfalt eine gelungene heißen kann. In der Jugend lesen wir unsere Dichter freilich ohne allen Com- mentar', wir folgen ihnen entzückt durch Hell und Dunkel, und das Uebermaß des Genusses, den wir aus dem Verstandenen schöpfen, führt uns über das weniger Klare leicht hinweg, ja nicht selten liegt auch in diesem noch ein Reiz des Ahndungsvollen, der den Genuß erhöht. Ebenso wenig, wie das allseitige Verständniß des Inhalts, kümmert uns der tiefe Bezug des Gedichts zu dem Dichter, wir singen sein Lied und fragen nicht wie es entstanden sei, nur feiern wohl den Namen des Dichters, aber lassen es bei dem Namen bewenden. Dies Ergreifen der bloßen Sache in ihrem groben Sein, ohne Sorge wegen ihres Zusammenhanges und ohne Rückblick auf ihren Urheber, findet sich auch in ganzen Zeitaltern, in solchen nämlich, welche noch die Kindlichkeit eines unreifen Zustandes darstellen, und daher überhaupt im Volksleben, sofern es mehr oder minder stets einem sol¬ chen Zustande angehört. Alls diesem Grunde wissen wir auch so we¬ nig über die Entstehung der großen Urdichtuugen, über die Dichter der Ilias und Odyssee, der Gesänge vom Eid, der Nibelungen; und so singt noch immer das Volk froh lind fromm seine Welt- und Kirchen¬ lieder, wie sie das fliegende Blatt und das Gesangbuch namenlos dar- *) Goethe's Gedichte, erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt, nebst Bariantcnsammlung und Nachlese, von Heinrich Vieh off. Erster Theil. Periode der Naturpoesie. 1765—178Z. Düsseldorf 1846.12.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/210>, abgerufen am 03.07.2024.