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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Spaziergänge eines Wiener Prosaisten.



Es liegt im Spazierengehen die Tendenz, freie Luft zu schöpfen,
es ist somit ein Act der Freiheit, ein Nestreben, die Brust zu erwei¬
tern, ein Kämpfen gegen die Beengung der Mauern, ein unmittel¬
bares Verkehren mit dem Athem des Weltgeistes, der Lust. Es möge
ferner in Prosa oder Versen spazieren gegangen werden, so läßt sich
davon einiger Nutzen und viele Annehmlichkeit ziehen. Da wir uns
poetische Schwungkraft in keinem Falle zutrauen, so wollen wir be¬
scheiden zu Fuße ausgehen und unsre nüchternen Beobachtungen zu-
sammmentragen.

Wien hat ein einziges, großartiges, nur mit sich selbst vergleich,
bares Denkmal -- seinen Stephansdom. Es wäre entsetzlich, wenn
Wien dieser Hauptzierde, durch die längst beregte Abtragung des
Thurmes bis zur Uhr, verlustig ginge. Es gliche einem laufenden
Briefe mit gebrochenem Siegel. Wie kommt es denn aber, daß die
massenhaften, den Thurm rings umhängenden Gerüste noch immer
nicht verschwinden wollen? Müssen wir uns wirklich auf jene unge¬
heure Operation gefaßt machen? Sollte die moderne Baukunst in der
That beschämt die Segel streichen vor der Größe und Erhabenheit des
Geistes, welcher dereinst so erhabene Schöpfungen in'ö Leben rief?
Ein Niese der Poesie und Gläubigkeit steht jetzt der herrliche Thurm
aufrecht inmitten eines höchst unerquicklichen Häusermeeres und pre¬
diget den materialistisch zerfahrenen Bewohnern Schwung und Ge¬
schichte. Welche Eindrücke durchquellen die Seele des Spaziergän¬
gers, wenn er in Heller Mondnacht und später Stunde, also unbeirrt
durch das unangenehme Wagengerassel über den Stephansplatz wan¬
delt! Es ist ein Stück Romantik, deutsche Majestätsschauer, gemildert
durch den sanften Strahl des ewig bleichen, daher ewig trauernden
Gestirns, durchrieseln die Gebeine, und es wäre ein Seitenstück zum
Markusplatze, wenn man Italien mit Deutschland vergleichen dürfte,
wenn die Pinie gleich der Tanne wäre, wenn Petrarca mit Schiller
parallelisirt werden könnte. Lebe wohl, lieber Thurm, Der Spazier-


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Spaziergänge eines Wiener Prosaisten.



Es liegt im Spazierengehen die Tendenz, freie Luft zu schöpfen,
es ist somit ein Act der Freiheit, ein Nestreben, die Brust zu erwei¬
tern, ein Kämpfen gegen die Beengung der Mauern, ein unmittel¬
bares Verkehren mit dem Athem des Weltgeistes, der Lust. Es möge
ferner in Prosa oder Versen spazieren gegangen werden, so läßt sich
davon einiger Nutzen und viele Annehmlichkeit ziehen. Da wir uns
poetische Schwungkraft in keinem Falle zutrauen, so wollen wir be¬
scheiden zu Fuße ausgehen und unsre nüchternen Beobachtungen zu-
sammmentragen.

Wien hat ein einziges, großartiges, nur mit sich selbst vergleich,
bares Denkmal — seinen Stephansdom. Es wäre entsetzlich, wenn
Wien dieser Hauptzierde, durch die längst beregte Abtragung des
Thurmes bis zur Uhr, verlustig ginge. Es gliche einem laufenden
Briefe mit gebrochenem Siegel. Wie kommt es denn aber, daß die
massenhaften, den Thurm rings umhängenden Gerüste noch immer
nicht verschwinden wollen? Müssen wir uns wirklich auf jene unge¬
heure Operation gefaßt machen? Sollte die moderne Baukunst in der
That beschämt die Segel streichen vor der Größe und Erhabenheit des
Geistes, welcher dereinst so erhabene Schöpfungen in'ö Leben rief?
Ein Niese der Poesie und Gläubigkeit steht jetzt der herrliche Thurm
aufrecht inmitten eines höchst unerquicklichen Häusermeeres und pre¬
diget den materialistisch zerfahrenen Bewohnern Schwung und Ge¬
schichte. Welche Eindrücke durchquellen die Seele des Spaziergän¬
gers, wenn er in Heller Mondnacht und später Stunde, also unbeirrt
durch das unangenehme Wagengerassel über den Stephansplatz wan¬
delt! Es ist ein Stück Romantik, deutsche Majestätsschauer, gemildert
durch den sanften Strahl des ewig bleichen, daher ewig trauernden
Gestirns, durchrieseln die Gebeine, und es wäre ein Seitenstück zum
Markusplatze, wenn man Italien mit Deutschland vergleichen dürfte,
wenn die Pinie gleich der Tanne wäre, wenn Petrarca mit Schiller
parallelisirt werden könnte. Lebe wohl, lieber Thurm, Der Spazier-


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[0543] Spaziergänge eines Wiener Prosaisten. Es liegt im Spazierengehen die Tendenz, freie Luft zu schöpfen, es ist somit ein Act der Freiheit, ein Nestreben, die Brust zu erwei¬ tern, ein Kämpfen gegen die Beengung der Mauern, ein unmittel¬ bares Verkehren mit dem Athem des Weltgeistes, der Lust. Es möge ferner in Prosa oder Versen spazieren gegangen werden, so läßt sich davon einiger Nutzen und viele Annehmlichkeit ziehen. Da wir uns poetische Schwungkraft in keinem Falle zutrauen, so wollen wir be¬ scheiden zu Fuße ausgehen und unsre nüchternen Beobachtungen zu- sammmentragen. Wien hat ein einziges, großartiges, nur mit sich selbst vergleich, bares Denkmal — seinen Stephansdom. Es wäre entsetzlich, wenn Wien dieser Hauptzierde, durch die längst beregte Abtragung des Thurmes bis zur Uhr, verlustig ginge. Es gliche einem laufenden Briefe mit gebrochenem Siegel. Wie kommt es denn aber, daß die massenhaften, den Thurm rings umhängenden Gerüste noch immer nicht verschwinden wollen? Müssen wir uns wirklich auf jene unge¬ heure Operation gefaßt machen? Sollte die moderne Baukunst in der That beschämt die Segel streichen vor der Größe und Erhabenheit des Geistes, welcher dereinst so erhabene Schöpfungen in'ö Leben rief? Ein Niese der Poesie und Gläubigkeit steht jetzt der herrliche Thurm aufrecht inmitten eines höchst unerquicklichen Häusermeeres und pre¬ diget den materialistisch zerfahrenen Bewohnern Schwung und Ge¬ schichte. Welche Eindrücke durchquellen die Seele des Spaziergän¬ gers, wenn er in Heller Mondnacht und später Stunde, also unbeirrt durch das unangenehme Wagengerassel über den Stephansplatz wan¬ delt! Es ist ein Stück Romantik, deutsche Majestätsschauer, gemildert durch den sanften Strahl des ewig bleichen, daher ewig trauernden Gestirns, durchrieseln die Gebeine, und es wäre ein Seitenstück zum Markusplatze, wenn man Italien mit Deutschland vergleichen dürfte, wenn die Pinie gleich der Tanne wäre, wenn Petrarca mit Schiller parallelisirt werden könnte. Lebe wohl, lieber Thurm, Der Spazier- 72*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/543>, abgerufen am 04.07.2024.