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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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sich nun zwar nicht speciell auf den "Balgentreter von Eilersrode,
niedersächsische Dorfgeschichte, erzählt von Georg Schirges" und
erschienen bei Hoffmann und Campe. Allein frei ist auch dieses Buch
von vielen der angezogenen Mängeln nicht. Wäre es z. B. vor etwa
vier oder-fünf Jahren erschienen, so würde von einer Dorfgeschichte
wahrscheinlich gar nichts auf dem Titel bemerkt sein; der Verleger
würde sicherlich weißes Papier zum Druck gewählt und den brochirtcn
Band in minder saloppen Gewand haben auftreten lassen. Es ist
wahr, eine auf dem Dorf spielende Geschichte lesen wir darin; aber
vergebens sucht man nach dem Charakteristischen einer niedersächsischen
Dorfgeschichte. Wenn sich ein Amtmann und ein Pastor gegenseitig
chikaniren, ein Schulmeister dabei im Trüben fischt, die Bauern sich
weg" > Wiederbesetzung des Välgetreterpostens in zwei Parteien spalten
und in der Schenke prügeln, das Landgericht später keinen der Partei-
candidaten, sondern einen Dritten zum Bälgetreter macht, zuletzt aber
die Geschichte mit einer Heirath zwischen den Kindern des Pfarrers
und Amtmanns zu fröhlichem Ende gedeiht, so ist dies allerdings wohl
lebenswahre Alltagsgcschichte, aber noch keine niedersächsische und über¬
haupt noch keine eigentliche VvlkSnvvelle. Selbst die Oekonomie der
Erzählung erscheint vom kritischen Standpunkt aus verfehlt. Von ih¬
ren 303 Druckseiten sind mindestens Jos zu viel; diese könnte sie
unbeschadet ihres Organismus und sogar zum Vortheil der Concen-
--A -- trirung ihres Interesses einbüßen.


VII
Notizen.

Die Scheu vor der freien Luft. -- Die Nachtigallensteuer in Berlin. -- Der
Schauspieler frißt die Eier. -- Tendenz über Tendenz.

-- Man wundert sich, daß der Justizminister von Könneritz in
der sächsischen Kammer Mündlichkeit, aber nicht Oeffentlichkeit des Ge¬
richtsverfahrens empfehlen konnte. Mündlichkeit nebst Heimlichkeit ist
allerdings eine seltsame Combination, welche nur zu oft eine summa¬
rische Justiz begünstigen würd.'. Aber die Scheu vor der freien Luft
ist eine Krankheit, an welcher bei uns nicht blos die Regierungen lei¬
den, sondern auch ein großer Theil des liberalen Publicums merkt es
nicht, wie sehr zuweilen noch der Zopf ihm hinten hängt. Haben doch
sächsische Deputirte, indem sie für die Errichtung von Schiedsgerichten
sprachen, bei Leibe keine Oeffentlichkeit dabei dulden wollen. Die
Glossen der "Aachener Zeitung" über dieses bezeichnende Benehmen tref¬
fen den Nagel auf den Kopf. Der Dieb, der Landstreicher, der Lump
mag der Oeffentlichkeit der Assisen versallen, denn Niemand glaubt,
daß er selbst jemals wegen eines Verbrechens vor die Schranken treten
werde; dagegen kann Jeder in den Fall kommen, mit seinen Ange-


sich nun zwar nicht speciell auf den „Balgentreter von Eilersrode,
niedersächsische Dorfgeschichte, erzählt von Georg Schirges" und
erschienen bei Hoffmann und Campe. Allein frei ist auch dieses Buch
von vielen der angezogenen Mängeln nicht. Wäre es z. B. vor etwa
vier oder-fünf Jahren erschienen, so würde von einer Dorfgeschichte
wahrscheinlich gar nichts auf dem Titel bemerkt sein; der Verleger
würde sicherlich weißes Papier zum Druck gewählt und den brochirtcn
Band in minder saloppen Gewand haben auftreten lassen. Es ist
wahr, eine auf dem Dorf spielende Geschichte lesen wir darin; aber
vergebens sucht man nach dem Charakteristischen einer niedersächsischen
Dorfgeschichte. Wenn sich ein Amtmann und ein Pastor gegenseitig
chikaniren, ein Schulmeister dabei im Trüben fischt, die Bauern sich
weg« > Wiederbesetzung des Välgetreterpostens in zwei Parteien spalten
und in der Schenke prügeln, das Landgericht später keinen der Partei-
candidaten, sondern einen Dritten zum Bälgetreter macht, zuletzt aber
die Geschichte mit einer Heirath zwischen den Kindern des Pfarrers
und Amtmanns zu fröhlichem Ende gedeiht, so ist dies allerdings wohl
lebenswahre Alltagsgcschichte, aber noch keine niedersächsische und über¬
haupt noch keine eigentliche VvlkSnvvelle. Selbst die Oekonomie der
Erzählung erscheint vom kritischen Standpunkt aus verfehlt. Von ih¬
ren 303 Druckseiten sind mindestens Jos zu viel; diese könnte sie
unbeschadet ihres Organismus und sogar zum Vortheil der Concen-
—A — trirung ihres Interesses einbüßen.


VII
Notizen.

Die Scheu vor der freien Luft. — Die Nachtigallensteuer in Berlin. — Der
Schauspieler frißt die Eier. — Tendenz über Tendenz.

— Man wundert sich, daß der Justizminister von Könneritz in
der sächsischen Kammer Mündlichkeit, aber nicht Oeffentlichkeit des Ge¬
richtsverfahrens empfehlen konnte. Mündlichkeit nebst Heimlichkeit ist
allerdings eine seltsame Combination, welche nur zu oft eine summa¬
rische Justiz begünstigen würd.'. Aber die Scheu vor der freien Luft
ist eine Krankheit, an welcher bei uns nicht blos die Regierungen lei¬
den, sondern auch ein großer Theil des liberalen Publicums merkt es
nicht, wie sehr zuweilen noch der Zopf ihm hinten hängt. Haben doch
sächsische Deputirte, indem sie für die Errichtung von Schiedsgerichten
sprachen, bei Leibe keine Oeffentlichkeit dabei dulden wollen. Die
Glossen der „Aachener Zeitung" über dieses bezeichnende Benehmen tref¬
fen den Nagel auf den Kopf. Der Dieb, der Landstreicher, der Lump
mag der Oeffentlichkeit der Assisen versallen, denn Niemand glaubt,
daß er selbst jemals wegen eines Verbrechens vor die Schranken treten
werde; dagegen kann Jeder in den Fall kommen, mit seinen Ange-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/570>, abgerufen am 05.02.2025.