Cin Blick in die geselligen Regionen. Von Adolphine
Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬ fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬ denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn auch nur die, sich selbst zu spielen.
Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬ ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.
Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf- teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.
Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt. Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬ sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬ werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt scheint.
Grenzbote" !8ii. l. 79
Cin Blick in die geselligen Regionen. Von Adolphine
Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬ fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬ denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn auch nur die, sich selbst zu spielen.
Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬ ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.
Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf- teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.
Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt. Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬ sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬ werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt scheint.
Grenzbote« !8ii. l. 79
<TEI><text><body><div><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0613"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180326"/></div></div><divn="1"><head> Cin Blick in die geselligen Regionen.<lb/><notetype="byline"> Von Adolphine</note></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><pxml:id="ID_1610"> Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬<lb/>
fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer<lb/>
Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der<lb/>
einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir<lb/>
haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen<lb/>
unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl<lb/>
naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der<lb/>
Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬<lb/>
denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen<lb/>
kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch<lb/>
nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn<lb/>
auch nur die, sich selbst zu spielen.</p><lb/><pxml:id="ID_1611"> Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬<lb/>
ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und<lb/>
Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.</p><lb/><pxml:id="ID_1612"> Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen<lb/>
wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf-<lb/>
teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.</p><lb/><pxml:id="ID_1613"> Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt.<lb/>
Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬<lb/>
sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie<lb/>
die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬<lb/>
werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt<lb/>
scheint.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"> Grenzbote« !8ii. l. 79</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0613]
Cin Blick in die geselligen Regionen.
Von Adolphine
Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬
fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer
Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der
einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir
haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen
unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl
naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der
Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬
denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen
kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch
nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn
auch nur die, sich selbst zu spielen.
Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬
ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und
Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.
Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen
wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf-
teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.
Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt.
Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬
sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie
die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬
werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt
scheint.
Grenzbote« !8ii. l. 79
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/613>, abgerufen am 19.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.