Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite
Französisch und Deutsche
Borgelesen im Vaux-Hall zu Brüssel,
von
I. K u r a n d a.



M. '
D i e L i t e r a t u r e n.

^ Die Weltgeschichte ist von denselben Gesetzen durchdrungen, wie die
Naturgeschichte., Die Ordnung der Natur bleibt sich gleich, von-dem
kleinsten Grashalm einer. Wiese, bis zu- dein höchsten Gedanken ^eines
Sokrates. Ein Baum, ein Mensch, ein Volt, Ein Gesetz gilt für
Alle, Eine Eiche wächst aus der Erde, steigt hoch empor, treibt
Hundert Zweige,, lebt tausend Jahre, verdorrt endlich, verfault und ver¬
schwindet. Aber in der schönsten Zeit ihrer Kraft, da hat ein milder
Wind die Blüthen von ihren Blättern losgelöst, und hat sie fortgetra¬
gen, weithin in ein fremdes Land, dort hat er sie auf den Boden un¬
sichtbar niedergelegt. Jahre verflossen; da beginnt aus dem fremden
Boden allmählig ein junger neuer Eichenbaum sich empor zu heben,
und er breitet gleichfalls seine Arme aus, und blüht und befruchtet.

Ganz so ist es mit den Nationen. Die Aegyptier, die Hebräer,
die Griechen, die Römer, die Mauren -- alle blühten, spannten ihre
Zweige weit aus, und erhoben stolz und kühn ihre Wipfel, und alle wur¬
den auch wieder alt, verdorrten und verschwanden. Was war der Zweck
ihres Daseins? Die Blüthen, die sie ausgeströmt, die Ideen, die sie hin¬
terlassen! Das alte Aegvpten hinterließ uns die steinerne Weisheit sei-
nerHieroglyphen,Judäa ließ uns seine Bibchdie Griechen ließen uns ihreKunst
und Dichtung, die Römer ihre Staatswissenschaft -- und unsichtbare


Französisch und Deutsche
Borgelesen im Vaux-Hall zu Brüssel,
von
I. K u r a n d a.



M. '
D i e L i t e r a t u r e n.

^ Die Weltgeschichte ist von denselben Gesetzen durchdrungen, wie die
Naturgeschichte., Die Ordnung der Natur bleibt sich gleich, von-dem
kleinsten Grashalm einer. Wiese, bis zu- dein höchsten Gedanken ^eines
Sokrates. Ein Baum, ein Mensch, ein Volt, Ein Gesetz gilt für
Alle, Eine Eiche wächst aus der Erde, steigt hoch empor, treibt
Hundert Zweige,, lebt tausend Jahre, verdorrt endlich, verfault und ver¬
schwindet. Aber in der schönsten Zeit ihrer Kraft, da hat ein milder
Wind die Blüthen von ihren Blättern losgelöst, und hat sie fortgetra¬
gen, weithin in ein fremdes Land, dort hat er sie auf den Boden un¬
sichtbar niedergelegt. Jahre verflossen; da beginnt aus dem fremden
Boden allmählig ein junger neuer Eichenbaum sich empor zu heben,
und er breitet gleichfalls seine Arme aus, und blüht und befruchtet.

Ganz so ist es mit den Nationen. Die Aegyptier, die Hebräer,
die Griechen, die Römer, die Mauren — alle blühten, spannten ihre
Zweige weit aus, und erhoben stolz und kühn ihre Wipfel, und alle wur¬
den auch wieder alt, verdorrten und verschwanden. Was war der Zweck
ihres Daseins? Die Blüthen, die sie ausgeströmt, die Ideen, die sie hin¬
terlassen! Das alte Aegvpten hinterließ uns die steinerne Weisheit sei-
nerHieroglyphen,Judäa ließ uns seine Bibchdie Griechen ließen uns ihreKunst
und Dichtung, die Römer ihre Staatswissenschaft — und unsichtbare


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267683"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Französisch und Deutsche<lb/>
Borgelesen im Vaux-Hall zu Brüssel,<lb/><note type="byline"> von<lb/>
I. K u r a n d a.</note></head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="2">
            <head> M.   '<lb/>
D i e L i t e r a t u r e n.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1665"> ^ Die Weltgeschichte ist von denselben Gesetzen durchdrungen, wie die<lb/>
Naturgeschichte., Die Ordnung der Natur bleibt sich gleich, von-dem<lb/>
kleinsten Grashalm einer. Wiese, bis zu- dein höchsten Gedanken ^eines<lb/>
Sokrates. Ein Baum, ein Mensch, ein Volt, Ein Gesetz gilt für<lb/>
Alle, Eine Eiche wächst aus der Erde, steigt hoch empor, treibt<lb/>
Hundert Zweige,, lebt tausend Jahre, verdorrt endlich, verfault und ver¬<lb/>
schwindet. Aber in der schönsten Zeit ihrer Kraft, da hat ein milder<lb/>
Wind die Blüthen von ihren Blättern losgelöst, und hat sie fortgetra¬<lb/>
gen, weithin in ein fremdes Land, dort hat er sie auf den Boden un¬<lb/>
sichtbar niedergelegt. Jahre verflossen; da beginnt aus dem fremden<lb/>
Boden allmählig ein junger neuer Eichenbaum sich empor zu heben,<lb/>
und er breitet gleichfalls seine Arme aus, und blüht und befruchtet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1666" next="#ID_1667"> Ganz so ist es mit den Nationen. Die Aegyptier, die Hebräer,<lb/>
die Griechen, die Römer, die Mauren &#x2014; alle blühten, spannten ihre<lb/>
Zweige weit aus, und erhoben stolz und kühn ihre Wipfel, und alle wur¬<lb/>
den auch wieder alt, verdorrten und verschwanden. Was war der Zweck<lb/>
ihres Daseins? Die Blüthen, die sie ausgeströmt, die Ideen, die sie hin¬<lb/>
terlassen! Das alte Aegvpten hinterließ uns die steinerne Weisheit sei-<lb/>
nerHieroglyphen,Judäa ließ uns seine Bibchdie Griechen ließen uns ihreKunst<lb/>
und Dichtung, die Römer ihre Staatswissenschaft &#x2014; und unsichtbare</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Französisch und Deutsche Borgelesen im Vaux-Hall zu Brüssel, von I. K u r a n d a. M. ' D i e L i t e r a t u r e n. ^ Die Weltgeschichte ist von denselben Gesetzen durchdrungen, wie die Naturgeschichte., Die Ordnung der Natur bleibt sich gleich, von-dem kleinsten Grashalm einer. Wiese, bis zu- dein höchsten Gedanken ^eines Sokrates. Ein Baum, ein Mensch, ein Volt, Ein Gesetz gilt für Alle, Eine Eiche wächst aus der Erde, steigt hoch empor, treibt Hundert Zweige,, lebt tausend Jahre, verdorrt endlich, verfault und ver¬ schwindet. Aber in der schönsten Zeit ihrer Kraft, da hat ein milder Wind die Blüthen von ihren Blättern losgelöst, und hat sie fortgetra¬ gen, weithin in ein fremdes Land, dort hat er sie auf den Boden un¬ sichtbar niedergelegt. Jahre verflossen; da beginnt aus dem fremden Boden allmählig ein junger neuer Eichenbaum sich empor zu heben, und er breitet gleichfalls seine Arme aus, und blüht und befruchtet. Ganz so ist es mit den Nationen. Die Aegyptier, die Hebräer, die Griechen, die Römer, die Mauren — alle blühten, spannten ihre Zweige weit aus, und erhoben stolz und kühn ihre Wipfel, und alle wur¬ den auch wieder alt, verdorrten und verschwanden. Was war der Zweck ihres Daseins? Die Blüthen, die sie ausgeströmt, die Ideen, die sie hin¬ terlassen! Das alte Aegvpten hinterließ uns die steinerne Weisheit sei- nerHieroglyphen,Judäa ließ uns seine Bibchdie Griechen ließen uns ihreKunst und Dichtung, die Römer ihre Staatswissenschaft — und unsichtbare

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/470>, abgerufen am 22.12.2024.