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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Wanderungen dnrch die Pariser Theater"



l.

In welche Straße von Paris soll ich den deutschen Leser führen,
in der er nicht bekannt ist? Man kennt in der kleinsten Stadt
Deutschlands die Faubourg Se. Germain, die Chaussee d'Artim, die
Rue Richelieu, die Boulevards, das Palais Royal genauer und
besser als die Linden und die Leipziger Straße in Berlin, den Jo¬
sephsplatz und die Jägerzeile in Wien und wie alle die unberühm¬
ter Straßen und Plätze unserer berühmten Hauptstädte heißen.
Die Phantasie der Deutschen lebt im Auslande. Sie ist eine
fürchterliche Ehebrecherin, die, im innigsten Umgange mit dem ihr
angetrauten Gatten, ihre Gedanken anderswo erhitzt.

Und vollends die Theater! Die Pariser Theater! Es fällt kein Oel-
tropfen auf das Manuscript eines Pariser Souffleurkastens, es schwebt
kein Geheimniß zwischen dem ersten Tänzer und der letzten Choristin in
irgend einer Pariser Coulisse, ohne daß man in Deutschland durch
Estafette die Nachricht erfährt. Es giebt wenigstens eine halbe Million
Deutsche, die mehr von der Rachel als von der Rahel wissen, denen
Talma besser bekannt ist, als Fürst Hardenberg, und die weit ge¬
nauer die ersten Komiker im Vaudeville-Theater, als die ersten Mi--
nister deS österreichischen Staatscabinets zu nennen wissen. Und
nun erst die Stücke! Ein französischer Theaterdichter hat noch sein


Wanderungen dnrch die Pariser Theater»



l.

In welche Straße von Paris soll ich den deutschen Leser führen,
in der er nicht bekannt ist? Man kennt in der kleinsten Stadt
Deutschlands die Faubourg Se. Germain, die Chaussee d'Artim, die
Rue Richelieu, die Boulevards, das Palais Royal genauer und
besser als die Linden und die Leipziger Straße in Berlin, den Jo¬
sephsplatz und die Jägerzeile in Wien und wie alle die unberühm¬
ter Straßen und Plätze unserer berühmten Hauptstädte heißen.
Die Phantasie der Deutschen lebt im Auslande. Sie ist eine
fürchterliche Ehebrecherin, die, im innigsten Umgange mit dem ihr
angetrauten Gatten, ihre Gedanken anderswo erhitzt.

Und vollends die Theater! Die Pariser Theater! Es fällt kein Oel-
tropfen auf das Manuscript eines Pariser Souffleurkastens, es schwebt
kein Geheimniß zwischen dem ersten Tänzer und der letzten Choristin in
irgend einer Pariser Coulisse, ohne daß man in Deutschland durch
Estafette die Nachricht erfährt. Es giebt wenigstens eine halbe Million
Deutsche, die mehr von der Rachel als von der Rahel wissen, denen
Talma besser bekannt ist, als Fürst Hardenberg, und die weit ge¬
nauer die ersten Komiker im Vaudeville-Theater, als die ersten Mi--
nister deS österreichischen Staatscabinets zu nennen wissen. Und
nun erst die Stücke! Ein französischer Theaterdichter hat noch sein


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[0380] Wanderungen dnrch die Pariser Theater» l. In welche Straße von Paris soll ich den deutschen Leser führen, in der er nicht bekannt ist? Man kennt in der kleinsten Stadt Deutschlands die Faubourg Se. Germain, die Chaussee d'Artim, die Rue Richelieu, die Boulevards, das Palais Royal genauer und besser als die Linden und die Leipziger Straße in Berlin, den Jo¬ sephsplatz und die Jägerzeile in Wien und wie alle die unberühm¬ ter Straßen und Plätze unserer berühmten Hauptstädte heißen. Die Phantasie der Deutschen lebt im Auslande. Sie ist eine fürchterliche Ehebrecherin, die, im innigsten Umgange mit dem ihr angetrauten Gatten, ihre Gedanken anderswo erhitzt. Und vollends die Theater! Die Pariser Theater! Es fällt kein Oel- tropfen auf das Manuscript eines Pariser Souffleurkastens, es schwebt kein Geheimniß zwischen dem ersten Tänzer und der letzten Choristin in irgend einer Pariser Coulisse, ohne daß man in Deutschland durch Estafette die Nachricht erfährt. Es giebt wenigstens eine halbe Million Deutsche, die mehr von der Rachel als von der Rahel wissen, denen Talma besser bekannt ist, als Fürst Hardenberg, und die weit ge¬ nauer die ersten Komiker im Vaudeville-Theater, als die ersten Mi-- nister deS österreichischen Staatscabinets zu nennen wissen. Und nun erst die Stücke! Ein französischer Theaterdichter hat noch sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/380>, abgerufen am 26.06.2024.