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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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kein Trost, keine Ahndung, denn der hat sie ver-
lassen, in dem sie allein ihr Daseyn fühlte. Sie
sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht
die Vielen, die ihr den Verlust ersezzen könnten,
sie fühlt sich allein, verlassen von aller Welt, --
und blind, in die Enge gepreßt von der entsezli-
chen Noth ihres Herzens stürzt sie sich hinunter,
um in einem rings umfangenden Tode all ihre
Quaalen zu erstikken. -- Sieh, Albert, das ist
die Geschichte so manches Menschen, und sag, ist
das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur
findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der ver-
worrenen und widersprechenden Kräfte, und der
Mensch muß sterben.

Wehe dem, der zusehen und sagen könnte:
Die Thörinn! hätte sie gewartet, hätte sie die Zeit
würken lassen, es würde sich die Verzweiflung schon
gelegt, es würde sich ein anderer sie zu trösten
schon vorgefunden haben.

Das ist eben, als wenn einer sagte: der
Thor! stirbt am Fieber! hätte er gewartet, bis
sich seine Kräfte erhohlt, seine Säfte verbessert,
der Tumult seines Blutes gelegt hätten, alles wä-

re



kein Troſt, keine Ahndung, denn der hat ſie ver-
laſſen, in dem ſie allein ihr Daſeyn fuͤhlte. Sie
ſieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht
die Vielen, die ihr den Verluſt erſezzen koͤnnten,
ſie fuͤhlt ſich allein, verlaſſen von aller Welt, —
und blind, in die Enge gepreßt von der entſezli-
chen Noth ihres Herzens ſtuͤrzt ſie ſich hinunter,
um in einem rings umfangenden Tode all ihre
Quaalen zu erſtikken. — Sieh, Albert, das iſt
die Geſchichte ſo manches Menſchen, und ſag, iſt
das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur
findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der ver-
worrenen und widerſprechenden Kraͤfte, und der
Menſch muß ſterben.

Wehe dem, der zuſehen und ſagen koͤnnte:
Die Thoͤrinn! haͤtte ſie gewartet, haͤtte ſie die Zeit
wuͤrken laſſen, es wuͤrde ſich die Verzweiflung ſchon
gelegt, es wuͤrde ſich ein anderer ſie zu troͤſten
ſchon vorgefunden haben.

Das iſt eben, als wenn einer ſagte: der
Thor! ſtirbt am Fieber! haͤtte er gewartet, bis
ſich ſeine Kraͤfte erhohlt, ſeine Saͤfte verbeſſert,
der Tumult ſeines Blutes gelegt haͤtten, alles waͤ-

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[88/0088] kein Troſt, keine Ahndung, denn der hat ſie ver- laſſen, in dem ſie allein ihr Daſeyn fuͤhlte. Sie ſieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verluſt erſezzen koͤnnten, ſie fuͤhlt ſich allein, verlaſſen von aller Welt, — und blind, in die Enge gepreßt von der entſezli- chen Noth ihres Herzens ſtuͤrzt ſie ſich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Quaalen zu erſtikken. — Sieh, Albert, das iſt die Geſchichte ſo manches Menſchen, und ſag, iſt das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der ver- worrenen und widerſprechenden Kraͤfte, und der Menſch muß ſterben. Wehe dem, der zuſehen und ſagen koͤnnte: Die Thoͤrinn! haͤtte ſie gewartet, haͤtte ſie die Zeit wuͤrken laſſen, es wuͤrde ſich die Verzweiflung ſchon gelegt, es wuͤrde ſich ein anderer ſie zu troͤſten ſchon vorgefunden haben. Das iſt eben, als wenn einer ſagte: der Thor! ſtirbt am Fieber! haͤtte er gewartet, bis ſich ſeine Kraͤfte erhohlt, ſeine Saͤfte verbeſſert, der Tumult ſeines Blutes gelegt haͤtten, alles waͤ- re

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/88>, abgerufen am 26.04.2024.