So brachte Wilhelm seine Nächte im Ge¬ nusse vertraulicher Liebe, seine Tage in Er¬ wartung neuer seliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬ nung zu Marianen hinzog, fühlte er sich wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Mensch zu werden beginne; nun war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung seiner Wün¬ sche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz strebte, den Gegenstand seiner Leiden¬ schaft zu veredlen, sein Geist, das geliebte Mädchen mit sich empor zu heben. In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Anden¬ ken. War sie ihm sonst nothwendig gewe¬ sen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie ge¬
Neuntes Capitel.
So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬ nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬ wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬ nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Menſch zu werden beginne; nun war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬ ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬ ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte Mädchen mit ſich empor zu heben. In der kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬ ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬ ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬
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Neuntes Capitel.
So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬
nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬
wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon
zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬
nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer
Menſch zu werden beginne; nun war er mit
ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬
ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein
Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬
ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte
Mädchen mit ſich empor zu heben. In der
kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬
ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬
ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er
mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/79>, abgerufen am 21.12.2024.
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