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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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ne, womit das Ganze abgethan und bey Seite gebracht
wird; indessen das übrige Publicum diese selige Ueber-
zeugung gleichsam aus der Luft aufschnappt; wie ich
denn die Anekdote hier nicht verschweigen kann, daß
ein solcher Glücklicher, der von den neueren Bemühun-
gen etwas vernahm, versicherte: Newton habe das alles
schon gesagt und besser; er wisse nur nicht wo.

32.

Indem wir uns nun also zu den Versuchen wen-
den, so bitten wir unsre Leser, auf den ersten sogleich alle
Aufmerksamkeit zu richten, den der Verfasser durch
einen Salto mortale gleich zu Anfang wagt, und uns
ganz unerwartet in medias res hineinreißt; wobey wir,
wenn wir nicht wohl Acht haben, überrascht werden,
uns verwirren und sogleich die Freyheit des Urtheils
verlieren.

33.

Diejenigen Freunde der Wissenschaft, die mit den
subjectiven dioptrischen Versuchen der zweyten Classe,
die wir umständlich genug vorgetragen und abgeleitet,
gehörig bekannt sind, werden sogleich einsehen, daß
Newton hier nicht auf eine Weise verfährt, die dem
Mathematiker geziemt. Denn dieser setzt, wenn er be-
lehren will, das Einfachste voraus, und baut aus den
begreiflichsten Elementen sein bewundernswürdiges Ge-
bäude zusammen. Newton hingegen stellt den compli-
cirtesten subjectiven Versuch, den es vielleicht gibt, an

ne, womit das Ganze abgethan und bey Seite gebracht
wird; indeſſen das uͤbrige Publicum dieſe ſelige Ueber-
zeugung gleichſam aus der Luft aufſchnappt; wie ich
denn die Anekdote hier nicht verſchweigen kann, daß
ein ſolcher Gluͤcklicher, der von den neueren Bemuͤhun-
gen etwas vernahm, verſicherte: Newton habe das alles
ſchon geſagt und beſſer; er wiſſe nur nicht wo.

32.

Indem wir uns nun alſo zu den Verſuchen wen-
den, ſo bitten wir unſre Leſer, auf den erſten ſogleich alle
Aufmerkſamkeit zu richten, den der Verfaſſer durch
einen Salto mortale gleich zu Anfang wagt, und uns
ganz unerwartet in medias res hineinreißt; wobey wir,
wenn wir nicht wohl Acht haben, uͤberraſcht werden,
uns verwirren und ſogleich die Freyheit des Urtheils
verlieren.

33.

Diejenigen Freunde der Wiſſenſchaft, die mit den
ſubjectiven dioptriſchen Verſuchen der zweyten Claſſe,
die wir umſtaͤndlich genug vorgetragen und abgeleitet,
gehoͤrig bekannt ſind, werden ſogleich einſehen, daß
Newton hier nicht auf eine Weiſe verfaͤhrt, die dem
Mathematiker geziemt. Denn dieſer ſetzt, wenn er be-
lehren will, das Einfachſte voraus, und baut aus den
begreiflichſten Elementen ſein bewundernswuͤrdiges Ge-
baͤude zuſammen. Newton hingegen ſtellt den compli-
cirteſten ſubjectiven Verſuch, den es vielleicht gibt, an

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[375/0429] ne, womit das Ganze abgethan und bey Seite gebracht wird; indeſſen das uͤbrige Publicum dieſe ſelige Ueber- zeugung gleichſam aus der Luft aufſchnappt; wie ich denn die Anekdote hier nicht verſchweigen kann, daß ein ſolcher Gluͤcklicher, der von den neueren Bemuͤhun- gen etwas vernahm, verſicherte: Newton habe das alles ſchon geſagt und beſſer; er wiſſe nur nicht wo. 32. Indem wir uns nun alſo zu den Verſuchen wen- den, ſo bitten wir unſre Leſer, auf den erſten ſogleich alle Aufmerkſamkeit zu richten, den der Verfaſſer durch einen Salto mortale gleich zu Anfang wagt, und uns ganz unerwartet in medias res hineinreißt; wobey wir, wenn wir nicht wohl Acht haben, uͤberraſcht werden, uns verwirren und ſogleich die Freyheit des Urtheils verlieren. 33. Diejenigen Freunde der Wiſſenſchaft, die mit den ſubjectiven dioptriſchen Verſuchen der zweyten Claſſe, die wir umſtaͤndlich genug vorgetragen und abgeleitet, gehoͤrig bekannt ſind, werden ſogleich einſehen, daß Newton hier nicht auf eine Weiſe verfaͤhrt, die dem Mathematiker geziemt. Denn dieſer ſetzt, wenn er be- lehren will, das Einfachſte voraus, und baut aus den begreiflichſten Elementen ſein bewundernswuͤrdiges Ge- baͤude zuſammen. Newton hingegen ſtellt den compli- cirteſten ſubjectiven Verſuch, den es vielleicht gibt, an

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/429>, abgerufen am 21.11.2024.