Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Lei- tenden; hier sind alle übrige Eigenschaf- ten vereinigt, ohne dass irgend eine, das eigenthümliche Recht behauptend, hervor- träte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter, oder einer alternden Weltepoche. Uebersicht des Weltwesens, Ironie, freyen Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prä- misse wird uns zugleich geboten, desshalb sehen wir auch wie grosser Werth auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwär- tig und beziehen die entferntesten Dinge leicht auf einander, daher nähern sie sich auch dem was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist
Allgemeinstes.
Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Lei- tenden; hier sind alle übrige Eigenschaf- ten vereinigt, ohne daſs irgend eine, das eigenthümliche Recht behauptend, hervor- träte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter, oder einer alternden Weltepoche. Uebersicht des Weltwesens, Ironie, freyen Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prä- misse wird uns zugleich geboten, deſshalb sehen wir auch wie groſser Werth auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwär- tig und beziehen die entferntesten Dinge leicht auf einander, daher nähern sie sich auch dem was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist
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Allgemeinstes.
Der höchste Charakter orientalischer
Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist
nennen, das Vorwaltende des oberen Lei-
tenden; hier sind alle übrige Eigenschaf-
ten vereinigt, ohne daſs irgend eine, das
eigenthümliche Recht behauptend, hervor-
träte. Der Geist gehört vorzüglich dem
Alter, oder einer alternden Weltepoche.
Uebersicht des Weltwesens, Ironie, freyen
Gebrauch der Talente finden wir in allen
Dichtern des Orients. Resultat und Prä-
misse wird uns zugleich geboten, deſshalb
sehen wir auch wie groſser Werth auf ein
Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene
Dichter haben alle Gegenstände gegenwär-
tig und beziehen die entferntesten Dinge
leicht auf einander, daher nähern sie sich
auch dem was wir Witz nennen; doch steht
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/341>, abgerufen am 21.11.2024.
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