Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Vom Einfluß des Körpers auf die Seele ins-
besondere.
§. 43.

In der Kindheit ist der Körper schwach, das
Gehirn, die Knochen, die Nerven sind weich; alle
Theile sind noch unausgebildet und roh; die Seele ist
in diesem Alter zur Vernunft und zum Verstande un-
fähig, ihr Denken ist Phantastren, ihr Schließen ist
Radotiren, und ihre ganze Beschäfftigung träumen.
Nach und nach bildet sich der Körper aus; das Ge-
hirn entwickelt sich; die Nerven bekommen Festigkeit
und Stärke; die Seele folgt dieser Ausbildung Schritt
vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle-
gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan-
tasie, und Grundsäze an die Stelle der wilden Einfäl-
le. Nach dem höchsten Punkt seiner Stärke nimmt
der Körper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu
hart, oder verwandelt sich in eine wässerichte Mate-
rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus-
keln steif; die Seele verliert eine Fähigkeit nach der
andern; das Gedächtniß nimmt ab; Affekten und Lei-
denschaften verschwinden; der Verstand wird dunkel,
und geht endlich in Albernheit über. *)


Eine
*) -- -- -- Gigni pariter cum corpore & una
Crescere sentimns, pariterque senescere mentem.
Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur
Corpore; sic animi sequitur sententia tenuis.
Inde ubi robustis adolevit viribus aetas,
Consilium quoque majus, & accutior est animi vis.
Post ubi jam validis quassatum est viribus aevi
Cor-
Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele ins-
beſondere.
§. 43.

In der Kindheit iſt der Koͤrper ſchwach, das
Gehirn, die Knochen, die Nerven ſind weich; alle
Theile ſind noch unausgebildet und roh; die Seele iſt
in dieſem Alter zur Vernunft und zum Verſtande un-
faͤhig, ihr Denken iſt Phantaſtren, ihr Schließen iſt
Radotiren, und ihre ganze Beſchaͤfftigung traͤumen.
Nach und nach bildet ſich der Koͤrper aus; das Ge-
hirn entwickelt ſich; die Nerven bekommen Feſtigkeit
und Staͤrke; die Seele folgt dieſer Ausbildung Schritt
vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle-
gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan-
taſie, und Grundſaͤze an die Stelle der wilden Einfaͤl-
le. Nach dem hoͤchſten Punkt ſeiner Staͤrke nimmt
der Koͤrper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu
hart, oder verwandelt ſich in eine waͤſſerichte Mate-
rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus-
keln ſteif; die Seele verliert eine Faͤhigkeit nach der
andern; das Gedaͤchtniß nimmt ab; Affekten und Lei-
denſchaften verſchwinden; der Verſtand wird dunkel,
und geht endlich in Albernheit uͤber. *)


Eine
*) — — — Gigni pariter cum corpore & una
Creſcere ſentimns, pariterque ſeneſcere mentem.
Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur
Corpore; ſic animi ſequitur ſententia tenuis.
Inde ubi robuſtis adolevit viribus ætas,
Conſilium quoque majus, & accutior eſt animi vis.
Poſt ubi jam validis quaſſatum eſt viribus ævi
Cor-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0202" n="183"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Vom Einfluß des Ko&#x0364;rpers auf die Seele ins-<lb/>
be&#x017F;ondere.</hi><lb/>
§. 43.</head><lb/>
            <p>In der Kindheit i&#x017F;t der Ko&#x0364;rper &#x017F;chwach, das<lb/>
Gehirn, die Knochen, die Nerven &#x017F;ind weich; alle<lb/>
Theile &#x017F;ind noch unausgebildet und roh; die Seele i&#x017F;t<lb/>
in die&#x017F;em Alter zur Vernunft und zum Ver&#x017F;tande un-<lb/>
fa&#x0364;hig, ihr Denken i&#x017F;t Phanta&#x017F;tren, ihr Schließen i&#x017F;t<lb/>
Radotiren, und ihre ganze Be&#x017F;cha&#x0364;fftigung tra&#x0364;umen.<lb/>
Nach und nach bildet &#x017F;ich der Ko&#x0364;rper aus; das Ge-<lb/>
hirn entwickelt &#x017F;ich; die Nerven bekommen Fe&#x017F;tigkeit<lb/>
und Sta&#x0364;rke; die Seele folgt die&#x017F;er Ausbildung Schritt<lb/>
vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle-<lb/>
gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie, und Grund&#x017F;a&#x0364;ze an die Stelle der wilden Einfa&#x0364;l-<lb/>
le. Nach dem ho&#x0364;ch&#x017F;ten Punkt &#x017F;einer Sta&#x0364;rke nimmt<lb/>
der Ko&#x0364;rper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu<lb/>
hart, oder verwandelt &#x017F;ich in eine wa&#x0364;&#x017F;&#x017F;erichte Mate-<lb/>
rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus-<lb/>
keln &#x017F;teif; die Seele verliert eine Fa&#x0364;higkeit nach der<lb/>
andern; das Geda&#x0364;chtniß nimmt ab; Affekten und Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften ver&#x017F;chwinden; der Ver&#x017F;tand wird dunkel,<lb/>
und geht endlich in Albernheit u&#x0364;ber. <note xml:id="note-0202" next="#note-0203" place="foot" n="*)">&#x2014; &#x2014; &#x2014; <hi rendition="#aq">Gigni pariter cum corpore &amp; una<lb/>
Cre&#x017F;cere &#x017F;entimns, pariterque &#x017F;ene&#x017F;cere mentem.<lb/>
Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur<lb/>
Corpore; &#x017F;ic animi &#x017F;equitur &#x017F;ententia tenuis.<lb/>
Inde ubi robu&#x017F;tis adolevit viribus ætas,<lb/>
Con&#x017F;ilium quoque majus, &amp; accutior e&#x017F;t animi vis.<lb/>
Po&#x017F;t ubi jam validis qua&#x017F;&#x017F;atum e&#x017F;t viribus ævi</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">Cor-</hi></fw></note></p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Eine</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0202] Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele ins- beſondere. §. 43. In der Kindheit iſt der Koͤrper ſchwach, das Gehirn, die Knochen, die Nerven ſind weich; alle Theile ſind noch unausgebildet und roh; die Seele iſt in dieſem Alter zur Vernunft und zum Verſtande un- faͤhig, ihr Denken iſt Phantaſtren, ihr Schließen iſt Radotiren, und ihre ganze Beſchaͤfftigung traͤumen. Nach und nach bildet ſich der Koͤrper aus; das Ge- hirn entwickelt ſich; die Nerven bekommen Feſtigkeit und Staͤrke; die Seele folgt dieſer Ausbildung Schritt vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle- gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan- taſie, und Grundſaͤze an die Stelle der wilden Einfaͤl- le. Nach dem hoͤchſten Punkt ſeiner Staͤrke nimmt der Koͤrper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu hart, oder verwandelt ſich in eine waͤſſerichte Mate- rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus- keln ſteif; die Seele verliert eine Faͤhigkeit nach der andern; das Gedaͤchtniß nimmt ab; Affekten und Lei- denſchaften verſchwinden; der Verſtand wird dunkel, und geht endlich in Albernheit uͤber. *) Eine *) — — — Gigni pariter cum corpore & una Creſcere ſentimns, pariterque ſeneſcere mentem. Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur Corpore; ſic animi ſequitur ſententia tenuis. Inde ubi robuſtis adolevit viribus ætas, Conſilium quoque majus, & accutior eſt animi vis. Poſt ubi jam validis quaſſatum eſt viribus ævi Cor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/202
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/202>, abgerufen am 03.12.2024.