Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden, standen mehrere Kaleschwagen, aber der des Super¬ intendenten fehlte noch, weil Koseleger eine viel längere Sitzung erwartet und darauf hin seinen Wagen erst zu zehn Uhr bestellt hatte. Bis dahin war noch eine hübsche Zeit; der Superintendent indessen schien nicht unzufrieden darüber und seines Amtsbruders Arm nehmend, sagte er: "Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie sehen, bei Ihnen zu Gaste laden. Als Unverheirateter werden Sie, so hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen. Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigstens an Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen. Unsre guten Frauen entschlagen sich dieser Einsicht und dieser unbedingte Glauben an sich und ihre Wichtigkeit hat oft was Rührendes."
Lorenzen, der sich -- bei voller Würdigung der Gaben seines ihm vorgesetzten und zugleich gern einen spöttischen Ton anschlagenden Amtsbruders -- im all¬ gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit allem einverstanden und nickte, während sie, schräg über den Platz fort, auf die Pfarre zuschritten.
"Ja, diese Einbildungen!" fuhr Koseleger fort, zu dessen Lieblingsgesprächen dieses Thema gehörte. "Ge¬ wiß ist es richtig, daß wir samt und sonders von Ein¬ bildungen leben, aber für die Frauen ist es das täg¬
Achtzehntes Kapitel.
Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden, ſtanden mehrere Kaleſchwagen, aber der des Super¬ intendenten fehlte noch, weil Koſeleger eine viel längere Sitzung erwartet und darauf hin ſeinen Wagen erſt zu zehn Uhr beſtellt hatte. Bis dahin war noch eine hübſche Zeit; der Superintendent indeſſen ſchien nicht unzufrieden darüber und ſeines Amtsbruders Arm nehmend, ſagte er: „Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie ſehen, bei Ihnen zu Gaſte laden. Als Unverheirateter werden Sie, ſo hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen. Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigſtens an Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen. Unſre guten Frauen entſchlagen ſich dieſer Einſicht und dieſer unbedingte Glauben an ſich und ihre Wichtigkeit hat oft was Rührendes.“
Lorenzen, der ſich — bei voller Würdigung der Gaben ſeines ihm vorgeſetzten und zugleich gern einen ſpöttiſchen Ton anſchlagenden Amtsbruders — im all¬ gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit allem einverſtanden und nickte, während ſie, ſchräg über den Platz fort, auf die Pfarre zuſchritten.
„Ja, dieſe Einbildungen!“ fuhr Koſeleger fort, zu deſſen Lieblingsgeſprächen dieſes Thema gehörte. „Ge¬ wiß iſt es richtig, daß wir ſamt und ſonders von Ein¬ bildungen leben, aber für die Frauen iſt es das täg¬
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0225"n="[218]"/><divn="2"><head><hirendition="#b #g">Achtzehntes Kapitel.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden,<lb/>ſtanden mehrere Kaleſchwagen, aber der des Super¬<lb/>
intendenten fehlte noch, weil Koſeleger eine viel längere<lb/>
Sitzung erwartet und darauf hin ſeinen Wagen erſt zu<lb/>
zehn Uhr beſtellt hatte. Bis dahin war noch eine hübſche<lb/>
Zeit; der Superintendent indeſſen ſchien nicht unzufrieden<lb/>
darüber und ſeines Amtsbruders Arm nehmend, ſagte<lb/>
er: „Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie ſehen, bei<lb/>
Ihnen zu Gaſte laden. Als Unverheirateter werden Sie,<lb/>ſo hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen.<lb/>
Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigſtens an<lb/>
Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen.<lb/>
Unſre guten Frauen entſchlagen ſich dieſer Einſicht und<lb/>
dieſer unbedingte Glauben an ſich und ihre Wichtigkeit<lb/>
hat oft was Rührendes.“</p><lb/><p>Lorenzen, der ſich — bei voller Würdigung der<lb/>
Gaben ſeines ihm vorgeſetzten und zugleich gern einen<lb/>ſpöttiſchen Ton anſchlagenden Amtsbruders — im all¬<lb/>
gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit<lb/>
allem einverſtanden und nickte, während ſie, ſchräg über<lb/>
den Platz fort, auf die Pfarre zuſchritten.</p><lb/><p>„Ja, dieſe Einbildungen!“ fuhr Koſeleger fort, zu<lb/>
deſſen Lieblingsgeſprächen dieſes Thema gehörte. „Ge¬<lb/>
wiß iſt es richtig, daß wir ſamt und ſonders von Ein¬<lb/>
bildungen leben, aber für die Frauen iſt es das täg¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[218]/0225]
Achtzehntes Kapitel.
Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden,
ſtanden mehrere Kaleſchwagen, aber der des Super¬
intendenten fehlte noch, weil Koſeleger eine viel längere
Sitzung erwartet und darauf hin ſeinen Wagen erſt zu
zehn Uhr beſtellt hatte. Bis dahin war noch eine hübſche
Zeit; der Superintendent indeſſen ſchien nicht unzufrieden
darüber und ſeines Amtsbruders Arm nehmend, ſagte
er: „Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie ſehen, bei
Ihnen zu Gaſte laden. Als Unverheirateter werden Sie,
ſo hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen.
Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigſtens an
Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen.
Unſre guten Frauen entſchlagen ſich dieſer Einſicht und
dieſer unbedingte Glauben an ſich und ihre Wichtigkeit
hat oft was Rührendes.“
Lorenzen, der ſich — bei voller Würdigung der
Gaben ſeines ihm vorgeſetzten und zugleich gern einen
ſpöttiſchen Ton anſchlagenden Amtsbruders — im all¬
gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit
allem einverſtanden und nickte, während ſie, ſchräg über
den Platz fort, auf die Pfarre zuſchritten.
„Ja, dieſe Einbildungen!“ fuhr Koſeleger fort, zu
deſſen Lieblingsgeſprächen dieſes Thema gehörte. „Ge¬
wiß iſt es richtig, daß wir ſamt und ſonders von Ein¬
bildungen leben, aber für die Frauen iſt es das täg¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899, S. [218]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_stechlin_1899/225>, abgerufen am 19.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.