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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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athmend, als sei sie von einer drohenden Gefahr erlöst
worden, Kassandane und Atossa. Dann ließ sie sich in
ihre Wohnung tragen und eilte, dort angelangt, in sehn-
süchtiger Hast dem Putztische zu, auf welchem das theure
Schreiben lag. Die junge Oberste ihrer Dienerinnen, dieselbe,
welche sie auf der Reise zum Erstenmale in persische Ge-
wänder gekleidet hatte, empfing sie mit einem schlauen,
vielverheißenden Lächeln, welches sich in Staunen verwan-
delte, als ihre Herrin den auf dem Tische liegenden Putz
keines Blicks würdigte und nach dem langersehnten
Briefe griff.

Hastig öffnete Nitetis das Wachs des Siegels und
wollte sich eben, um die mühsame Arbeit des Lesens zu
beginnen, niederlassen, als jene Dienerin dicht vor sie hin-
trat und die Hände zusammenschlagend ausrief: "Beim
Mithra, Herrin, ich begreife Dich nicht! Du mußt krank
sein! Enthält dieß graue, garstige Stück Zeug vielleicht
eine Zauberei, welche den, der es anschaut, für alle an-
dern Dinge blind macht? Lege die Rolle nur schnell bei
Seite und sieh Dir die herrlichen Sachen an, welche Dir
der große König, dem Auramazda Sieg verleihe, zusandte,
während Du der Feier beiwohntest. -- Sieh nur dieß
köstliche Purpurgewand mit dem weißen Streifen und der
reichen Silberstickerei, sieh diese Tiara mit den königlichen
Diamanten! Weißt Du denn nicht, daß solche Gaben mehr
bedeuten, als gewöhnliche Angebinde? Kambyses läßt Dich
bitten (bitten hat der Bote gesagt, nicht befehlen), Du
mögest diese prachtvollen Sachen beim heutigen Festmahle
tragen. -- Wie zornig wird Phädyme werden! Was für
Augen werden die andern Weiber machen, welche niemals
gleiche Geschenke erhielten! -- Bis zum heutigen Tage
war Kassandane, die Mutter des Königs, die einzige

athmend, als ſei ſie von einer drohenden Gefahr erlöst
worden, Kaſſandane und Atoſſa. Dann ließ ſie ſich in
ihre Wohnung tragen und eilte, dort angelangt, in ſehn-
ſüchtiger Haſt dem Putztiſche zu, auf welchem das theure
Schreiben lag. Die junge Oberſte ihrer Dienerinnen, dieſelbe,
welche ſie auf der Reiſe zum Erſtenmale in perſiſche Ge-
wänder gekleidet hatte, empfing ſie mit einem ſchlauen,
vielverheißenden Lächeln, welches ſich in Staunen verwan-
delte, als ihre Herrin den auf dem Tiſche liegenden Putz
keines Blicks würdigte und nach dem langerſehnten
Briefe griff.

Haſtig öffnete Nitetis das Wachs des Siegels und
wollte ſich eben, um die mühſame Arbeit des Leſens zu
beginnen, niederlaſſen, als jene Dienerin dicht vor ſie hin-
trat und die Hände zuſammenſchlagend ausrief: „Beim
Mithra, Herrin, ich begreife Dich nicht! Du mußt krank
ſein! Enthält dieß graue, garſtige Stück Zeug vielleicht
eine Zauberei, welche den, der es anſchaut, für alle an-
dern Dinge blind macht? Lege die Rolle nur ſchnell bei
Seite und ſieh Dir die herrlichen Sachen an, welche Dir
der große König, dem Auramazda Sieg verleihe, zuſandte,
während Du der Feier beiwohnteſt. — Sieh nur dieß
köſtliche Purpurgewand mit dem weißen Streifen und der
reichen Silberſtickerei, ſieh dieſe Tiara mit den königlichen
Diamanten! Weißt Du denn nicht, daß ſolche Gaben mehr
bedeuten, als gewöhnliche Angebinde? Kambyſes läßt Dich
bitten (bitten hat der Bote geſagt, nicht befehlen), Du
mögeſt dieſe prachtvollen Sachen beim heutigen Feſtmahle
tragen. — Wie zornig wird Phädyme werden! Was für
Augen werden die andern Weiber machen, welche niemals
gleiche Geſchenke erhielten! — Bis zum heutigen Tage
war Kaſſandane, die Mutter des Königs, die einzige

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[83/0085] athmend, als ſei ſie von einer drohenden Gefahr erlöst worden, Kaſſandane und Atoſſa. Dann ließ ſie ſich in ihre Wohnung tragen und eilte, dort angelangt, in ſehn- ſüchtiger Haſt dem Putztiſche zu, auf welchem das theure Schreiben lag. Die junge Oberſte ihrer Dienerinnen, dieſelbe, welche ſie auf der Reiſe zum Erſtenmale in perſiſche Ge- wänder gekleidet hatte, empfing ſie mit einem ſchlauen, vielverheißenden Lächeln, welches ſich in Staunen verwan- delte, als ihre Herrin den auf dem Tiſche liegenden Putz keines Blicks würdigte und nach dem langerſehnten Briefe griff. Haſtig öffnete Nitetis das Wachs des Siegels und wollte ſich eben, um die mühſame Arbeit des Leſens zu beginnen, niederlaſſen, als jene Dienerin dicht vor ſie hin- trat und die Hände zuſammenſchlagend ausrief: „Beim Mithra, Herrin, ich begreife Dich nicht! Du mußt krank ſein! Enthält dieß graue, garſtige Stück Zeug vielleicht eine Zauberei, welche den, der es anſchaut, für alle an- dern Dinge blind macht? Lege die Rolle nur ſchnell bei Seite und ſieh Dir die herrlichen Sachen an, welche Dir der große König, dem Auramazda Sieg verleihe, zuſandte, während Du der Feier beiwohnteſt. — Sieh nur dieß köſtliche Purpurgewand mit dem weißen Streifen und der reichen Silberſtickerei, ſieh dieſe Tiara mit den königlichen Diamanten! Weißt Du denn nicht, daß ſolche Gaben mehr bedeuten, als gewöhnliche Angebinde? Kambyſes läßt Dich bitten (bitten hat der Bote geſagt, nicht befehlen), Du mögeſt dieſe prachtvollen Sachen beim heutigen Feſtmahle tragen. — Wie zornig wird Phädyme werden! Was für Augen werden die andern Weiber machen, welche niemals gleiche Geſchenke erhielten! — Bis zum heutigen Tage war Kaſſandane, die Mutter des Königs, die einzige

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/85>, abgerufen am 26.04.2024.