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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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Kassandane und Atossa knieten an ihrer Seite und
stimmten aus voller Brust in die Gesänge der Magier
ein, welche dem Herzen der Aegypterin nichts waren, als
ein leerer Schall.

Diese Gebete, denen an manchen Stellen hohe Poesie
nicht abzusprechen ist, ermüden durch fortwährende Wieder-
holungen von Namen und Anrufungen einer Unzahl böser
und guter Geister. Die Perserinnen wurden durch diesel-
ben zur höchsten Andacht erhoben, denn sie hatten von
Kindesbeinen an gelernt, jene Hymnen als die heiligsten
und herrlichsten aller Lieder zu betrachten. Diese Gesänge
hatten ihre ersten Gebete begleitet und waren ihnen werth
und heilig, wie Alles, was wir von unsern Vätern erer-
ben, was uns in der empfänglichsten Zeit unsres Lebens,
der Kindheit, als verehrungswürdig und göttlich dargestellt
wird; diese Gesänge konnten aber den verwöhnten Geist der
mit den schönsten griechischen Dichtungen vertrauten Aegyp-
terin nur wenig ansprechen. Das mühsam Erlernte war
ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, und
während die Perserinnen die äußeren Formen ihres Got-
tesdienstes, wie etwas Angeborenes, Selbstverständliches,
verrichteten, mußte sie sich geistig anstrengen, um der vor-
geschriebenen Ceremonien nicht zu vergessen und sich keine
Blöße vor den sie mißgünstig belauernden Nebenbuhlerin-
nen zu geben. Außerdem hatte sie wenige Minuten vor
dem Opfer den ersten Brief aus Aegypten erhalten. Der-
selbe lag ungelesen auf ihrem Putztische und kam ihr in
den Sinn, sobald sie sich zum Beten anschickte. Welche
Nachrichten mochte derselbe enthalten? Wie ging es den
Eltern, wie hatte sich Tachot in die Trennung von ihr
und dem geliebten Königssohne gefunden?

Als die Feier beendigt war, umarmte sie, hochauf-

Kaſſandane und Atoſſa knieten an ihrer Seite und
ſtimmten aus voller Bruſt in die Geſänge der Magier
ein, welche dem Herzen der Aegypterin nichts waren, als
ein leerer Schall.

Dieſe Gebete, denen an manchen Stellen hohe Poeſie
nicht abzuſprechen iſt, ermüden durch fortwährende Wieder-
holungen von Namen und Anrufungen einer Unzahl böſer
und guter Geiſter. Die Perſerinnen wurden durch dieſel-
ben zur höchſten Andacht erhoben, denn ſie hatten von
Kindesbeinen an gelernt, jene Hymnen als die heiligſten
und herrlichſten aller Lieder zu betrachten. Dieſe Geſänge
hatten ihre erſten Gebete begleitet und waren ihnen werth
und heilig, wie Alles, was wir von unſern Vätern erer-
ben, was uns in der empfänglichſten Zeit unſres Lebens,
der Kindheit, als verehrungswürdig und göttlich dargeſtellt
wird; dieſe Geſänge konnten aber den verwöhnten Geiſt der
mit den ſchönſten griechiſchen Dichtungen vertrauten Aegyp-
terin nur wenig anſprechen. Das mühſam Erlernte war
ihr noch nicht in Fleiſch und Blut übergegangen, und
während die Perſerinnen die äußeren Formen ihres Got-
tesdienſtes, wie etwas Angeborenes, Selbſtverſtändliches,
verrichteten, mußte ſie ſich geiſtig anſtrengen, um der vor-
geſchriebenen Ceremonien nicht zu vergeſſen und ſich keine
Blöße vor den ſie mißgünſtig belauernden Nebenbuhlerin-
nen zu geben. Außerdem hatte ſie wenige Minuten vor
dem Opfer den erſten Brief aus Aegypten erhalten. Der-
ſelbe lag ungeleſen auf ihrem Putztiſche und kam ihr in
den Sinn, ſobald ſie ſich zum Beten anſchickte. Welche
Nachrichten mochte derſelbe enthalten? Wie ging es den
Eltern, wie hatte ſich Tachot in die Trennung von ihr
und dem geliebten Königsſohne gefunden?

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[82/0084] Kaſſandane und Atoſſa knieten an ihrer Seite und ſtimmten aus voller Bruſt in die Geſänge der Magier ein, welche dem Herzen der Aegypterin nichts waren, als ein leerer Schall. Dieſe Gebete, denen an manchen Stellen hohe Poeſie nicht abzuſprechen iſt, ermüden durch fortwährende Wieder- holungen von Namen und Anrufungen einer Unzahl böſer und guter Geiſter. Die Perſerinnen wurden durch dieſel- ben zur höchſten Andacht erhoben, denn ſie hatten von Kindesbeinen an gelernt, jene Hymnen als die heiligſten und herrlichſten aller Lieder zu betrachten. Dieſe Geſänge hatten ihre erſten Gebete begleitet und waren ihnen werth und heilig, wie Alles, was wir von unſern Vätern erer- ben, was uns in der empfänglichſten Zeit unſres Lebens, der Kindheit, als verehrungswürdig und göttlich dargeſtellt wird; dieſe Geſänge konnten aber den verwöhnten Geiſt der mit den ſchönſten griechiſchen Dichtungen vertrauten Aegyp- terin nur wenig anſprechen. Das mühſam Erlernte war ihr noch nicht in Fleiſch und Blut übergegangen, und während die Perſerinnen die äußeren Formen ihres Got- tesdienſtes, wie etwas Angeborenes, Selbſtverſtändliches, verrichteten, mußte ſie ſich geiſtig anſtrengen, um der vor- geſchriebenen Ceremonien nicht zu vergeſſen und ſich keine Blöße vor den ſie mißgünſtig belauernden Nebenbuhlerin- nen zu geben. Außerdem hatte ſie wenige Minuten vor dem Opfer den erſten Brief aus Aegypten erhalten. Der- ſelbe lag ungeleſen auf ihrem Putztiſche und kam ihr in den Sinn, ſobald ſie ſich zum Beten anſchickte. Welche Nachrichten mochte derſelbe enthalten? Wie ging es den Eltern, wie hatte ſich Tachot in die Trennung von ihr und dem geliebten Königsſohne gefunden? Als die Feier beendigt war, umarmte ſie, hochauf-

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/84>, abgerufen am 28.04.2024.