Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. die Beziehungen dieser Institution zu anderen Institutionen erörtert.Erst indem diese Einsicht für die Theorie von Satz, Aussage, Urtheil leitend wird, entsteht eine erkenntniß-theoretische Grundlage, die den Thatbestand der Geisteswissenschaften nicht in die Enge einer Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwissen- schaft zusammendrängt und solchergestalt verstümmelt, sondern wie sie gewachsen sind, begreift und begründet. VII. Aussonderung der Einzelwissenschaften aus der geschichtlich- gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Zwecke der Geisteswissenschaften, das Singulare, In- Erſtes einleitendes Buch. die Beziehungen dieſer Inſtitution zu anderen Inſtitutionen erörtert.Erſt indem dieſe Einſicht für die Theorie von Satz, Ausſage, Urtheil leitend wird, entſteht eine erkenntniß-theoretiſche Grundlage, die den Thatbeſtand der Geiſteswiſſenſchaften nicht in die Enge einer Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwiſſen- ſchaft zuſammendrängt und ſolchergeſtalt verſtümmelt, ſondern wie ſie gewachſen ſind, begreift und begründet. VII. Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften aus der geſchichtlich- geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Die Zwecke der Geiſteswiſſenſchaften, das Singulare, In- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0057" n="34"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> die Beziehungen dieſer Inſtitution zu anderen Inſtitutionen erörtert.<lb/> Erſt indem dieſe Einſicht für die Theorie von Satz, Ausſage, Urtheil<lb/> leitend wird, entſteht eine erkenntniß-theoretiſche Grundlage, die<lb/> den Thatbeſtand der Geiſteswiſſenſchaften nicht in die Enge einer<lb/> Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwiſſen-<lb/> ſchaft zuſammendrängt und ſolchergeſtalt verſtümmelt, ſondern wie<lb/> ſie gewachſen ſind, begreift und begründet.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#aq">VII.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften aus der geſchichtlich-<lb/> geſellſchaftlichen Wirklichkeit.</hi> </head><lb/> <p>Die Zwecke der Geiſteswiſſenſchaften, das Singulare, In-<lb/> dividuale der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu erfaſſen,<lb/> die in ſeiner Geſtaltung wirkſamen Gleichförmigkeiten zu erkennen,<lb/> Ziele und Regeln ſeiner Fortgeſtaltung feſtzuſtellen, können nur<lb/> vermittelſt der Kunſtgriffe des Denkens, vermittelſt der Analyſis<lb/> und der Abſtraktion erreicht werden. Der abſtrakte Ausdruck, in<lb/> welchem von beſtimmten Seiten des Thatbeſtandes abgeſehen wird,<lb/> andere aber entwickelt werden, iſt nicht das ausſchließliche letzte<lb/> Ziel dieſer Wiſſenſchaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel.<lb/> Wie das abſtrahirende Erkennen nicht die Selbſtändigkeit der<lb/> anderen Zwecke dieſer Wiſſenſchaften in ſich auflöſen darf: ſo kann<lb/> weder die geſchichtliche, die theoretiſche Erkenntniß noch die Ent-<lb/> wicklung der die Geſellſchaft thatſächlich leitenden Regeln dieſes<lb/> abſtrahirenden Erkennens entrathen. Der Streit zwiſchen der<lb/> hiſtoriſchen und der abſtrakten Schule entſtand, indem die ab-<lb/> ſtrakte Schule den erſten, die hiſtoriſche den anderen Fehler be-<lb/> ging. Jede Einzelwiſſenſchaft entſteht nur durch den Kunſtgriff<lb/> der Herauslöſung eines Theilinhaltes aus der geſchichtlich-geſell-<lb/> ſchaftlichen Wirklichkeit. Selbſt die Geſchichte ſieht von den Zügen<lb/> im Leben der einzelnen Menſchen und der Geſellſchaft, welche in<lb/> der von ihr darzuſtellenden Epoche denen aller anderen Epochen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0057]
Erſtes einleitendes Buch.
die Beziehungen dieſer Inſtitution zu anderen Inſtitutionen erörtert.
Erſt indem dieſe Einſicht für die Theorie von Satz, Ausſage, Urtheil
leitend wird, entſteht eine erkenntniß-theoretiſche Grundlage, die
den Thatbeſtand der Geiſteswiſſenſchaften nicht in die Enge einer
Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwiſſen-
ſchaft zuſammendrängt und ſolchergeſtalt verſtümmelt, ſondern wie
ſie gewachſen ſind, begreift und begründet.
VII.
Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften aus der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit.
Die Zwecke der Geiſteswiſſenſchaften, das Singulare, In-
dividuale der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu erfaſſen,
die in ſeiner Geſtaltung wirkſamen Gleichförmigkeiten zu erkennen,
Ziele und Regeln ſeiner Fortgeſtaltung feſtzuſtellen, können nur
vermittelſt der Kunſtgriffe des Denkens, vermittelſt der Analyſis
und der Abſtraktion erreicht werden. Der abſtrakte Ausdruck, in
welchem von beſtimmten Seiten des Thatbeſtandes abgeſehen wird,
andere aber entwickelt werden, iſt nicht das ausſchließliche letzte
Ziel dieſer Wiſſenſchaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel.
Wie das abſtrahirende Erkennen nicht die Selbſtändigkeit der
anderen Zwecke dieſer Wiſſenſchaften in ſich auflöſen darf: ſo kann
weder die geſchichtliche, die theoretiſche Erkenntniß noch die Ent-
wicklung der die Geſellſchaft thatſächlich leitenden Regeln dieſes
abſtrahirenden Erkennens entrathen. Der Streit zwiſchen der
hiſtoriſchen und der abſtrakten Schule entſtand, indem die ab-
ſtrakte Schule den erſten, die hiſtoriſche den anderen Fehler be-
ging. Jede Einzelwiſſenſchaft entſteht nur durch den Kunſtgriff
der Herauslöſung eines Theilinhaltes aus der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit. Selbſt die Geſchichte ſieht von den Zügen
im Leben der einzelnen Menſchen und der Geſellſchaft, welche in
der von ihr darzuſtellenden Epoche denen aller anderen Epochen
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