physischen Systemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein solches System von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen von demselben Wahrheitsgehalt steht, als Grundlage für die Wissenschaften benutzt werde, ist unwiederbringlich dahin.
Zweites Kapitel. Die Naturwissenschaften.
In dem dargelegten allgemeinen Zusammenhang entstand die moderne Naturwissenschaft. Der Geist der neueren Völker war in den wissenschaftlichen Korporationen des Mittelalters dis- ciplinirt worden. Die Wissenschaft, als Beruf, der sich in großen Körperschaften vererbte, betrieben, steigerte ihre Anforderungen an technische Vollendung und schränkte sich auf dasjenige ein, was sie zu beherrschen vermochte. Und zwar sah sie sich hierbei durch kräftige Impulse gefördert, welche sie in der Gesellschaft vor- fand. In demselben Maße, in welchem sie von der Unter- suchung der letzten Gründe sich loslöste, empfing sie von den fort- schreitenden praktischen Zwecken der Gesellschaft, dem Handel, der Medizin, der Industrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geist in dem arbeitsamen, die Handgriffe mit sinnendem Nachdenken ver- einigenden Bürgerthum schuf der experimentellen und messenden Wissenschaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von dem Christenthum her lebte in diesen romanischen und germa- nischen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geist die Herr- schaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt hat. So löst sich eine ihrer eingeschränkten Ziele sichere positive Wissenschaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geistigen Bildung, welche als Metaphysik aus der Totalität der Gemüths- kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen scheidet sich von dem seelischen Gesammtleben ab. Immer mehrere von den Voraussetzungen, welche in dieser Totalität gegeben sind, werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen
Beſtändige Abnahme der Bedeutung der Metaphyſik.
phyſiſchen Syſtemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein ſolches Syſtem von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen von demſelben Wahrheitsgehalt ſteht, als Grundlage für die Wiſſenſchaften benutzt werde, iſt unwiederbringlich dahin.
Zweites Kapitel. Die Naturwiſſenſchaften.
In dem dargelegten allgemeinen Zuſammenhang entſtand die moderne Naturwiſſenſchaft. Der Geiſt der neueren Völker war in den wiſſenſchaftlichen Korporationen des Mittelalters dis- ciplinirt worden. Die Wiſſenſchaft, als Beruf, der ſich in großen Körperſchaften vererbte, betrieben, ſteigerte ihre Anforderungen an techniſche Vollendung und ſchränkte ſich auf dasjenige ein, was ſie zu beherrſchen vermochte. Und zwar ſah ſie ſich hierbei durch kräftige Impulſe gefördert, welche ſie in der Geſellſchaft vor- fand. In demſelben Maße, in welchem ſie von der Unter- ſuchung der letzten Gründe ſich loslöſte, empfing ſie von den fort- ſchreitenden praktiſchen Zwecken der Geſellſchaft, dem Handel, der Medizin, der Induſtrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geiſt in dem arbeitſamen, die Handgriffe mit ſinnendem Nachdenken ver- einigenden Bürgerthum ſchuf der experimentellen und meſſenden Wiſſenſchaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von dem Chriſtenthum her lebte in dieſen romaniſchen und germa- niſchen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geiſt die Herr- ſchaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt hat. So löſt ſich eine ihrer eingeſchränkten Ziele ſichere poſitive Wiſſenſchaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geiſtigen Bildung, welche als Metaphyſik aus der Totalität der Gemüths- kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen ſcheidet ſich von dem ſeeliſchen Geſammtleben ab. Immer mehrere von den Vorausſetzungen, welche in dieſer Totalität gegeben ſind, werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0480"n="457"/><fwplace="top"type="header">Beſtändige Abnahme der Bedeutung der Metaphyſik.</fw><lb/>
phyſiſchen Syſtemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein<lb/>ſolches Syſtem von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen<lb/>
von demſelben Wahrheitsgehalt ſteht, als Grundlage für die<lb/>
Wiſſenſchaften benutzt werde, iſt unwiederbringlich dahin.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head><hirendition="#g">Zweites Kapitel</hi>.<lb/><hirendition="#b">Die Naturwiſſenſchaften.</hi></head><lb/><p>In dem dargelegten allgemeinen Zuſammenhang <hirendition="#g">entſtand</hi> die<lb/><hirendition="#g">moderne Naturwiſſenſchaft</hi>. Der Geiſt der neueren Völker<lb/>
war in den wiſſenſchaftlichen Korporationen des Mittelalters dis-<lb/>
ciplinirt worden. Die Wiſſenſchaft, als Beruf, der ſich in großen<lb/>
Körperſchaften vererbte, betrieben, ſteigerte ihre Anforderungen an<lb/>
techniſche Vollendung und ſchränkte ſich auf dasjenige ein, was ſie<lb/>
zu beherrſchen vermochte. Und zwar ſah ſie ſich hierbei durch<lb/>
kräftige Impulſe gefördert, welche ſie in der Geſellſchaft vor-<lb/>
fand. In demſelben Maße, in welchem ſie von der Unter-<lb/>ſuchung der letzten Gründe ſich loslöſte, empfing ſie von den fort-<lb/>ſchreitenden praktiſchen Zwecken der Geſellſchaft, dem Handel, der<lb/>
Medizin, der Induſtrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geiſt in<lb/>
dem arbeitſamen, die Handgriffe mit ſinnendem Nachdenken ver-<lb/>
einigenden Bürgerthum ſchuf der experimentellen und meſſenden<lb/>
Wiſſenſchaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von<lb/>
dem Chriſtenthum her lebte in dieſen romaniſchen und germa-<lb/>
niſchen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geiſt die Herr-<lb/>ſchaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt<lb/>
hat. So löſt ſich eine ihrer eingeſchränkten Ziele ſichere poſitive<lb/>
Wiſſenſchaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geiſtigen<lb/>
Bildung, welche als Metaphyſik aus der Totalität der Gemüths-<lb/>
kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen ſcheidet<lb/>ſich von dem ſeeliſchen Geſammtleben ab. Immer mehrere von<lb/>
den Vorausſetzungen, welche in dieſer Totalität gegeben ſind,<lb/>
werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[457/0480]
Beſtändige Abnahme der Bedeutung der Metaphyſik.
phyſiſchen Syſtemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein
ſolches Syſtem von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen
von demſelben Wahrheitsgehalt ſteht, als Grundlage für die
Wiſſenſchaften benutzt werde, iſt unwiederbringlich dahin.
Zweites Kapitel.
Die Naturwiſſenſchaften.
In dem dargelegten allgemeinen Zuſammenhang entſtand die
moderne Naturwiſſenſchaft. Der Geiſt der neueren Völker
war in den wiſſenſchaftlichen Korporationen des Mittelalters dis-
ciplinirt worden. Die Wiſſenſchaft, als Beruf, der ſich in großen
Körperſchaften vererbte, betrieben, ſteigerte ihre Anforderungen an
techniſche Vollendung und ſchränkte ſich auf dasjenige ein, was ſie
zu beherrſchen vermochte. Und zwar ſah ſie ſich hierbei durch
kräftige Impulſe gefördert, welche ſie in der Geſellſchaft vor-
fand. In demſelben Maße, in welchem ſie von der Unter-
ſuchung der letzten Gründe ſich loslöſte, empfing ſie von den fort-
ſchreitenden praktiſchen Zwecken der Geſellſchaft, dem Handel, der
Medizin, der Induſtrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geiſt in
dem arbeitſamen, die Handgriffe mit ſinnendem Nachdenken ver-
einigenden Bürgerthum ſchuf der experimentellen und meſſenden
Wiſſenſchaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von
dem Chriſtenthum her lebte in dieſen romaniſchen und germa-
niſchen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geiſt die Herr-
ſchaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt
hat. So löſt ſich eine ihrer eingeſchränkten Ziele ſichere poſitive
Wiſſenſchaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geiſtigen
Bildung, welche als Metaphyſik aus der Totalität der Gemüths-
kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen ſcheidet
ſich von dem ſeeliſchen Geſammtleben ab. Immer mehrere von
den Vorausſetzungen, welche in dieſer Totalität gegeben ſind,
werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/480>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.