Erste Antinomie zwischen der religiösen Erfahrung und dem Vorstellen.
dem religiösen Vorstellen anhaftenden Widersprüche, das religiöse Leben in uns zu vermindern oder in seiner Bedeutung für unser Gesammtleben herabzusetzen. Der Maler wird nicht von den Anti- nomien der Raumvorstellung gestört, denn sie verwirren ihm nicht seine Raumbilder. Genau so hindern die religiösen Antinomien nicht die freie Bewegung des religiösen Lebens selber. Aber sie machen allerdings die konsequente Durchbildung des religiösen Vorstellens, seine Zergliederung und die Verknüpfung der so ent- stehenden Begriffe zur Einheit eines Systems, wie noch Schleier- macher sie versuchte, unmöglich.
Die Antinomie zwischen der Vorstellung des allmächtigen und allwissenden Gottes und der Vor- stellung der Freiheit des Menschen.
Die erste und am meisten fundamentale Antinomie des religiösen Bewußtseins ist darin gegründet, daß das Subjekt sich in jedem gegebenen Moment nach rückwärts schlechthin bedingt und abhängig findet, zugleich aber sich frei weiß. Dieses Doppel- verhältniß ist, wie das die Deskription des religiösen Lebens zeigt, gleichsam die Springfeder der beständigen Arbeit des religiösen Geistes, in welcher die Gottesidee erst volle Ausbildung gewinnt. So erscheint innerhalb des religiösen Vorstellungslebens eine Antinomie, welche keine Formel zu bewältigen vermocht hat. Gott ist einmal Subjekt der Prädikate Güte, Allmacht, Allwissen- heit, andrerseits erscheinen alle diese Prädikate in ihm durch die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen eingeschränkt, und ihre Einschränkung ist ihre Aufhebung. Vielleicht hat keine Frage das Nachdenken einer größeren Zahl von Menschen unserer Erde beschäftigt und keine in gewaltigeren Naturen gearbeitet als diese, welche die Vorstellungswelt des Islam erschüttert und Paulus, Augustinus, Luther, Calvin, Cromwell bewegt hat. Wenn wir über das weite Trümmerfeld der Sekten und Schriften schreiten, welche dies Problem hervorrief, empfinden wir stärker als sonst, wie ganz abgethan hinter uns die Dogmatik liegt. Denn keine dieser Streitfragen oder Distinktionen bewegt heute noch die
Dilthey, Einleitung. 23
Erſte Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.
dem religiöſen Vorſtellen anhaftenden Widerſprüche, das religiöſe Leben in uns zu vermindern oder in ſeiner Bedeutung für unſer Geſammtleben herabzuſetzen. Der Maler wird nicht von den Anti- nomien der Raumvorſtellung geſtört, denn ſie verwirren ihm nicht ſeine Raumbilder. Genau ſo hindern die religiöſen Antinomien nicht die freie Bewegung des religiöſen Lebens ſelber. Aber ſie machen allerdings die konſequente Durchbildung des religiöſen Vorſtellens, ſeine Zergliederung und die Verknüpfung der ſo ent- ſtehenden Begriffe zur Einheit eines Syſtems, wie noch Schleier- macher ſie verſuchte, unmöglich.
Die Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des allmächtigen und allwiſſenden Gottes und der Vor- ſtellung der Freiheit des Menſchen.
Die erſte und am meiſten fundamentale Antinomie des religiöſen Bewußtſeins iſt darin gegründet, daß das Subjekt ſich in jedem gegebenen Moment nach rückwärts ſchlechthin bedingt und abhängig findet, zugleich aber ſich frei weiß. Dieſes Doppel- verhältniß iſt, wie das die Deſkription des religiöſen Lebens zeigt, gleichſam die Springfeder der beſtändigen Arbeit des religiöſen Geiſtes, in welcher die Gottesidee erſt volle Ausbildung gewinnt. So erſcheint innerhalb des religiöſen Vorſtellungslebens eine Antinomie, welche keine Formel zu bewältigen vermocht hat. Gott iſt einmal Subjekt der Prädikate Güte, Allmacht, Allwiſſen- heit, andrerſeits erſcheinen alle dieſe Prädikate in ihm durch die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menſchen eingeſchränkt, und ihre Einſchränkung iſt ihre Aufhebung. Vielleicht hat keine Frage das Nachdenken einer größeren Zahl von Menſchen unſerer Erde beſchäftigt und keine in gewaltigeren Naturen gearbeitet als dieſe, welche die Vorſtellungswelt des Islam erſchüttert und Paulus, Auguſtinus, Luther, Calvin, Cromwell bewegt hat. Wenn wir über das weite Trümmerfeld der Sekten und Schriften ſchreiten, welche dies Problem hervorrief, empfinden wir ſtärker als ſonſt, wie ganz abgethan hinter uns die Dogmatik liegt. Denn keine dieſer Streitfragen oder Diſtinktionen bewegt heute noch die
Dilthey, Einleitung. 23
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Erſte Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.
dem religiöſen Vorſtellen anhaftenden Widerſprüche, das religiöſe
Leben in uns zu vermindern oder in ſeiner Bedeutung für unſer
Geſammtleben herabzuſetzen. Der Maler wird nicht von den Anti-
nomien der Raumvorſtellung geſtört, denn ſie verwirren ihm nicht
ſeine Raumbilder. Genau ſo hindern die religiöſen Antinomien
nicht die freie Bewegung des religiöſen Lebens ſelber. Aber ſie
machen allerdings die konſequente Durchbildung des religiöſen
Vorſtellens, ſeine Zergliederung und die Verknüpfung der ſo ent-
ſtehenden Begriffe zur Einheit eines Syſtems, wie noch Schleier-
macher ſie verſuchte, unmöglich.
Die Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des
allmächtigen und allwiſſenden Gottes und der Vor-
ſtellung der Freiheit des Menſchen.
Die erſte und am meiſten fundamentale Antinomie des religiöſen
Bewußtſeins iſt darin gegründet, daß das Subjekt ſich in jedem
gegebenen Moment nach rückwärts ſchlechthin bedingt und
abhängig findet, zugleich aber ſich frei weiß. Dieſes Doppel-
verhältniß iſt, wie das die Deſkription des religiöſen Lebens zeigt,
gleichſam die Springfeder der beſtändigen Arbeit des religiöſen
Geiſtes, in welcher die Gottesidee erſt volle Ausbildung gewinnt.
So erſcheint innerhalb des religiöſen Vorſtellungslebens eine
Antinomie, welche keine Formel zu bewältigen vermocht hat.
Gott iſt einmal Subjekt der Prädikate Güte, Allmacht, Allwiſſen-
heit, andrerſeits erſcheinen alle dieſe Prädikate in ihm durch die
Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menſchen eingeſchränkt,
und ihre Einſchränkung iſt ihre Aufhebung. Vielleicht hat keine
Frage das Nachdenken einer größeren Zahl von Menſchen unſerer
Erde beſchäftigt und keine in gewaltigeren Naturen gearbeitet
als dieſe, welche die Vorſtellungswelt des Islam erſchüttert und
Paulus, Auguſtinus, Luther, Calvin, Cromwell bewegt hat. Wenn
wir über das weite Trümmerfeld der Sekten und Schriften
ſchreiten, welche dies Problem hervorrief, empfinden wir ſtärker als
ſonſt, wie ganz abgethan hinter uns die Dogmatik liegt. Denn
keine dieſer Streitfragen oder Diſtinktionen bewegt heute noch die
Dilthey, Einleitung. 23
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/376>, abgerufen am 22.02.2025.
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