Viertes Kapitel. Zeitalter der Sophisten und des Socrates. Die Methode der Feststellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.
Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland statt, welche die Geister so tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen seit dem Vorgang der Entstehung der Wissenschaft selber.
Mit jedem neuen metaphysischen Entwurf war der skeptische Geist gewachsen und machte sich nun mit souveränem Bewußtsein geltend. Die sozialen und politischen Veränderungen verstärkten das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten einen Wechsel in der Richtung der Interessen, durch welchen die Technik der mit dem Staatsleben zusammenhängenden Thätigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat. Sie riefen eine glänzende, die Aufmerksamkeit von ganz Griechen- land wie durch Zauber auf sich ziehende Berufsklasse in das Leben, die Sophisten, welche dem neu entstandenen Bedürfniß durch einen höheren Unterricht für die politischen Geschäfte entsprachen. Die geistige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu- gehen.
Im Beginn dieser Erschütterung aller wissenschaftlichen Be- griffe sprach Protagoras, der leitende Kopf dieser neuen Berufs- klasse vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus, welchem diese Formel Ausdruck gab, enthielt den ersten Ansatz einer Erkenntnißtheorie.
Der Mensch ist "das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind"; so lautete es in dem berühmten Anfang seiner philosophischen Hauptschrift. Was einem jeden erscheint, ist auch für ihn. -- Aber diese Sätze des Pro- togoras müssen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden, in denen sie mit Sicherheit aus den dürftigen Resten nachgewiesen werden können. Sie sind nicht der Ausdruck einer allgemeinen Theorie des Bewußtseins, welcher jede in demselben gegebene
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Viertes Kapitel. Zeitalter der Sophiſten und des Socrates. Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.
Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.
Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat. Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen- land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben, die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen. Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu- gehen.
Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be- griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs- klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus, welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz einer Erkenntnißtheorie.
Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro- togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden, in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0241"n="218"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#g">Viertes Kapitel.</hi><lb/><hirendition="#b">Zeitalter der Sophiſten und des Socrates.<lb/>
Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.</hi></head><lb/><p>Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus<lb/>
fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche<lb/>
die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit<lb/>
dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.</p><lb/><p>Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche<lb/>
Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein<lb/>
geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten<lb/>
das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten<lb/>
einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die<lb/>
Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit<lb/>
innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat.<lb/>
Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen-<lb/>
land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben,<lb/>
die <hirendition="#g">Sophiſten</hi>, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch<lb/>
einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen.<lb/>
Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu-<lb/>
gehen.</p><lb/><p>Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be-<lb/>
griffe ſprach <hirendition="#g">Protagoras</hi>, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs-<lb/>
klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus,<lb/>
welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz<lb/>
einer Erkenntnißtheorie.</p><lb/><p>Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie<lb/>ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem<lb/>
berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem<lb/>
jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro-<lb/>
togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden,<lb/>
in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen<lb/>
werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen<lb/>
Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[218/0241]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Viertes Kapitel.
Zeitalter der Sophiſten und des Socrates.
Die Methode der Feſtſtellung des Erkenntnißgrundes wird eingeführt.
Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus
fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche
die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit
dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.
Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche
Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein
geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten
das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten
einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die
Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit
innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat.
Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen-
land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben,
die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch
einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen.
Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu-
gehen.
Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be-
griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs-
klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus,
welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz
einer Erkenntnißtheorie.
Der Menſch iſt „das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie
ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind“; ſo lautete es in dem
berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem
jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro-
togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden,
in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen
werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen
Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/241>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.