Unleugbar bringt man in neuerer Zeit den Untersuchungen über die Entstehung der ursprachlichen Formen ein viel grös- seres Misstrauen entgegen als früher. Von manchen Seiten wird sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein die ars ne- sciendi gerühmt, mit welcher man jetzt Fragen behandle, die früher mit grosser Zuversicht in Angriff genommen wurden. Es genügt in dieser Beziehung auf Delbrück's Einleitung 2. Aufl. S. 57 und auf Joh. Schmidt Ztschr. XXIV S. 321 zu verweisen. Selbst der italienische Gelehrte d'Ovidio "d'un re- cente libro di Delbrück" S. 33, obwohl sonst mehrfach von den neueren Ansichten abweichend, äussert sich über diesen Punkt folgendermassen: "Codesto genere di speculazioni e di con- gettare sopra, quasi direi, le prime cellule della grammatica ariana lasciano sempre il lettore molto perplesso". Am wei- testen geht Joh. Schmidt am erwähnten Orte, indem er es geradezu ablehnt, den "begrifflichen Werth" der an die so- genannten Wurzeln gefügten formativen Elemente zu erklären. Wie weit es möglich ist, ohne solche Untersuchungen, die man oft glottogonische genannt hat, besser aber als morpho- gonische bezeichnen wird, auszukommen, und welche Mittel wir besitzen, um auch auf diesem Gebiete wenigstens etwas zu erreichen, das wird uns nachher beschäftigen. Gleich hier aber mag bemerkt werden, dass jene Abneigung gegen die
IV.
Est quodam prodire tenus, si non datur ultra.
Unleugbar bringt man in neuerer Zeit den Untersuchungen über die Entstehung der ursprachlichen Formen ein viel grös- seres Misstrauen entgegen als früher. Von manchen Seiten wird sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein die ars ne- sciendi gerühmt, mit welcher man jetzt Fragen behandle, die früher mit grosser Zuversicht in Angriff genommen wurden. Es genügt in dieser Beziehung auf Delbrück's Einleitung 2. Aufl. S. 57 und auf Joh. Schmidt Ztschr. XXIV S. 321 zu verweisen. Selbst der italienische Gelehrte d'Ovidio „d'un re- cente libro di Delbrück“ S. 33, obwohl sonst mehrfach von den neueren Ansichten abweichend, äussert sich über diesen Punkt folgendermassen: „Codesto genere di speculazioni e di con- gettare sopra, quasi direi, le prime cellule della grammatica ariana lasciano sempre il lettore molto perplesso“. Am wei- testen geht Joh. Schmidt am erwähnten Orte, indem er es geradezu ablehnt, den „begrifflichen Werth“ der an die so- genannten Wurzeln gefügten formativen Elemente zu erklären. Wie weit es möglich ist, ohne solche Untersuchungen, die man oft glottogonische genannt hat, besser aber als morpho- gonische bezeichnen wird, auszukommen, und welche Mittel wir besitzen, um auch auf diesem Gebiete wenigstens etwas zu erreichen, das wird uns nachher beschäftigen. Gleich hier aber mag bemerkt werden, dass jene Abneigung gegen die
<TEI><text><body><pbfacs="#f0138"n="[130]"/><divn="1"><head>IV.</head><epigraph><p><foreignxml:lang="lat">Est quodam prodire tenus, si non datur ultra.</foreign></p></epigraph><p>Unleugbar bringt man in neuerer Zeit den Untersuchungen<lb/>
über die Entstehung der ursprachlichen Formen ein viel grös-<lb/>
seres Misstrauen entgegen als früher. Von manchen Seiten<lb/>
wird sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein die ars ne-<lb/>
sciendi gerühmt, mit welcher man jetzt Fragen behandle, die<lb/>
früher mit grosser Zuversicht in Angriff genommen wurden.<lb/>
Es genügt in dieser Beziehung auf Delbrück's Einleitung<lb/>
2. Aufl. S. 57 und auf Joh. Schmidt Ztschr. XXIV S. 321 zu<lb/>
verweisen. Selbst der italienische Gelehrte d'Ovidio „<foreignxml:lang="ita">d'un re-<lb/>
cente libro di Delbrück</foreign>“ S. 33, obwohl sonst mehrfach von den<lb/>
neueren Ansichten abweichend, äussert sich über diesen Punkt<lb/>
folgendermassen: <quote>„<foreignxml:lang="ita">Codesto genere di speculazioni e di con-<lb/>
gettare sopra, quasi direi, le prime cellule della grammatica<lb/>
ariana lasciano sempre il lettore molto perplesso</foreign>“</quote>. Am wei-<lb/>
testen geht Joh. Schmidt am erwähnten Orte, indem er es<lb/>
geradezu ablehnt, den „begrifflichen Werth“ der an die so-<lb/>
genannten Wurzeln gefügten formativen Elemente zu erklären.<lb/>
Wie weit es möglich ist, ohne solche Untersuchungen, die<lb/>
man oft glottogonische genannt hat, besser aber als morpho-<lb/>
gonische bezeichnen wird, auszukommen, und welche Mittel<lb/>
wir besitzen, um auch auf diesem Gebiete wenigstens etwas<lb/>
zu erreichen, das wird uns nachher beschäftigen. Gleich hier<lb/>
aber mag bemerkt werden, dass jene Abneigung gegen die<lb/><lb/></p></div></body></text></TEI>
[[130]/0138]
IV. Est quodam prodire tenus, si non datur ultra.
Unleugbar bringt man in neuerer Zeit den Untersuchungen
über die Entstehung der ursprachlichen Formen ein viel grös-
seres Misstrauen entgegen als früher. Von manchen Seiten
wird sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein die ars ne-
sciendi gerühmt, mit welcher man jetzt Fragen behandle, die
früher mit grosser Zuversicht in Angriff genommen wurden.
Es genügt in dieser Beziehung auf Delbrück's Einleitung
2. Aufl. S. 57 und auf Joh. Schmidt Ztschr. XXIV S. 321 zu
verweisen. Selbst der italienische Gelehrte d'Ovidio „d'un re-
cente libro di Delbrück“ S. 33, obwohl sonst mehrfach von den
neueren Ansichten abweichend, äussert sich über diesen Punkt
folgendermassen: „Codesto genere di speculazioni e di con-
gettare sopra, quasi direi, le prime cellule della grammatica
ariana lasciano sempre il lettore molto perplesso“. Am wei-
testen geht Joh. Schmidt am erwähnten Orte, indem er es
geradezu ablehnt, den „begrifflichen Werth“ der an die so-
genannten Wurzeln gefügten formativen Elemente zu erklären.
Wie weit es möglich ist, ohne solche Untersuchungen, die
man oft glottogonische genannt hat, besser aber als morpho-
gonische bezeichnen wird, auszukommen, und welche Mittel
wir besitzen, um auch auf diesem Gebiete wenigstens etwas
zu erreichen, das wird uns nachher beschäftigen. Gleich hier
aber mag bemerkt werden, dass jene Abneigung gegen die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. [130]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/138>, abgerufen am 05.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.