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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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So ich. Aber nun die "Menschheit". Sie hat keine
Mitmenschen, keine Onkel, Tanten, Eltern, die erzählen. Hin¬
sichtlich der Tradition ist sie aufgewachsen wie Kaspar Hauser.
Ein Paar tausend Jahre: -- Könige, Priester, Reiche, Sklaven,
wie heute, vielleicht ein paar Dummheiten mehr, aber auch
schon tiefe, tiefe Weisheiten. Darüber hat sie noch Tage¬
bücher geführt, in Keilschrift, Hieroglyphen, chinesischen Thee¬
kasten-Lettern. Aber was dann? Auch hier schwarzgoldene
Tapeten, Pflastersteine, ich weiß nicht wo. Und ein grüner
Garten, wo ich unter einem Apfelbaum saß. Wo war das doch?
Keiner weiß wo. Es war ja kein zweiter dabei, der reden
könnte. Antwort! Antwort! Ackere die Erdkugel um, ob nicht
irgendwo noch ein Kinderspielzeug liegt. Ob die Wurzeln des
Apfelbaums nicht irgendwo stecken, wo du spieltest. Aber was
beweisen selbst sie? Sie zeigen dich als Kind, aber schon als
Menschenkind. Wo ist dein Geburtsattest? Und der Mutterleib?
Und die heilige Weihestunde zeugender Elternliebe? Arme Mensch¬
heit! Die Blüte der Erde und keine besseren Dokumente jenseits
deiner Erinnerung als ein Kaspar Hauser, dessen Herkunft ge¬
waltsam raffiniert verschleiert wurde .....

Du meinst heute, du denkst das allein. Aber an dieser
Stelle war das reine Denken vor dieser Frage schon Jahr¬
tausende vor dir angekommen. Es stand da ebenso fest, aber
es wollte sich nicht unterkriegen lassen. Der Stolz des
Geistes bäumte sich dagegen auf. Und so faßte er die
Dinge mit Herrenmacht und schuf sich in der Phantasie
ein Bild, das ihm groß genug schien zur Lösung. Er wollte
eben durch um jeden Preis, -- der Geist als Pfadfinder in
sich selbst.

Daß du als einzelner Mensch wohl im Mutterleibe vor
dem statistischen Faktum deiner Geburt gelebt haben mußt, mit
allen Prämissen bis zum Zeugungsakt, -- das holst du dir
stillschweigend wie etwas selbstverständliches aus der "Natur¬
geschichte". Das geht doch wirklich nicht anders, und selbst der

So ich. Aber nun die „Menſchheit“. Sie hat keine
Mitmenſchen, keine Onkel, Tanten, Eltern, die erzählen. Hin¬
ſichtlich der Tradition iſt ſie aufgewachſen wie Kaſpar Hauſer.
Ein Paar tauſend Jahre: — Könige, Prieſter, Reiche, Sklaven,
wie heute, vielleicht ein paar Dummheiten mehr, aber auch
ſchon tiefe, tiefe Weisheiten. Darüber hat ſie noch Tage¬
bücher geführt, in Keilſchrift, Hieroglyphen, chineſiſchen Thee¬
kaſten-Lettern. Aber was dann? Auch hier ſchwarzgoldene
Tapeten, Pflaſterſteine, ich weiß nicht wo. Und ein grüner
Garten, wo ich unter einem Apfelbaum ſaß. Wo war das doch?
Keiner weiß wo. Es war ja kein zweiter dabei, der reden
könnte. Antwort! Antwort! Ackere die Erdkugel um, ob nicht
irgendwo noch ein Kinderſpielzeug liegt. Ob die Wurzeln des
Apfelbaums nicht irgendwo ſtecken, wo du ſpielteſt. Aber was
beweiſen ſelbſt ſie? Sie zeigen dich als Kind, aber ſchon als
Menſchenkind. Wo iſt dein Geburtsatteſt? Und der Mutterleib?
Und die heilige Weiheſtunde zeugender Elternliebe? Arme Menſch¬
heit! Die Blüte der Erde und keine beſſeren Dokumente jenſeits
deiner Erinnerung als ein Kaſpar Hauſer, deſſen Herkunft ge¬
waltſam raffiniert verſchleiert wurde .....

Du meinſt heute, du denkſt das allein. Aber an dieſer
Stelle war das reine Denken vor dieſer Frage ſchon Jahr¬
tauſende vor dir angekommen. Es ſtand da ebenſo feſt, aber
es wollte ſich nicht unterkriegen laſſen. Der Stolz des
Geiſtes bäumte ſich dagegen auf. Und ſo faßte er die
Dinge mit Herrenmacht und ſchuf ſich in der Phantaſie
ein Bild, das ihm groß genug ſchien zur Löſung. Er wollte
eben durch um jeden Preis, — der Geiſt als Pfadfinder in
ſich ſelbſt.

Daß du als einzelner Menſch wohl im Mutterleibe vor
dem ſtatiſtiſchen Faktum deiner Geburt gelebt haben mußt, mit
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[22/0038] So ich. Aber nun die „Menſchheit“. Sie hat keine Mitmenſchen, keine Onkel, Tanten, Eltern, die erzählen. Hin¬ ſichtlich der Tradition iſt ſie aufgewachſen wie Kaſpar Hauſer. Ein Paar tauſend Jahre: — Könige, Prieſter, Reiche, Sklaven, wie heute, vielleicht ein paar Dummheiten mehr, aber auch ſchon tiefe, tiefe Weisheiten. Darüber hat ſie noch Tage¬ bücher geführt, in Keilſchrift, Hieroglyphen, chineſiſchen Thee¬ kaſten-Lettern. Aber was dann? Auch hier ſchwarzgoldene Tapeten, Pflaſterſteine, ich weiß nicht wo. Und ein grüner Garten, wo ich unter einem Apfelbaum ſaß. Wo war das doch? Keiner weiß wo. Es war ja kein zweiter dabei, der reden könnte. Antwort! Antwort! Ackere die Erdkugel um, ob nicht irgendwo noch ein Kinderſpielzeug liegt. Ob die Wurzeln des Apfelbaums nicht irgendwo ſtecken, wo du ſpielteſt. Aber was beweiſen ſelbſt ſie? Sie zeigen dich als Kind, aber ſchon als Menſchenkind. Wo iſt dein Geburtsatteſt? Und der Mutterleib? Und die heilige Weiheſtunde zeugender Elternliebe? Arme Menſch¬ heit! Die Blüte der Erde und keine beſſeren Dokumente jenſeits deiner Erinnerung als ein Kaſpar Hauſer, deſſen Herkunft ge¬ waltſam raffiniert verſchleiert wurde ..... Du meinſt heute, du denkſt das allein. Aber an dieſer Stelle war das reine Denken vor dieſer Frage ſchon Jahr¬ tauſende vor dir angekommen. Es ſtand da ebenſo feſt, aber es wollte ſich nicht unterkriegen laſſen. Der Stolz des Geiſtes bäumte ſich dagegen auf. Und ſo faßte er die Dinge mit Herrenmacht und ſchuf ſich in der Phantaſie ein Bild, das ihm groß genug ſchien zur Löſung. Er wollte eben durch um jeden Preis, — der Geiſt als Pfadfinder in ſich ſelbſt. Daß du als einzelner Menſch wohl im Mutterleibe vor dem ſtatiſtiſchen Faktum deiner Geburt gelebt haben mußt, mit allen Prämiſſen bis zum Zeugungsakt, — das holſt du dir ſtillſchweigend wie etwas ſelbſtverſtändliches aus der „Natur¬ geſchichte“. Das geht doch wirklich nicht anders, und ſelbſt der

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/38>, abgerufen am 26.04.2024.