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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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ungeheure Dummheiten, die ich als überwunden fühle, ein¬
zelne brauchbare Staffeln, die hinan führten. In allem aber
ganz unzweideutig "ich". Das geht hinab und hinab. Nun
wird es immer blasser, immer undeutlicher. Handlungen
tauchen auf, die mir doch schon fast fremd sind. Auch inner¬
lich fremd. Man hat ja allerhand Blödsinn begangen, weil
man es nicht besser wußte. Aber kann ich je so herzerweichend
dumm, so grün, so "kindisch" gehandelt haben? Noch tiefer --
und es sind nur noch Schemen da. Eine schwarzgoldige
Tapete in einem fremden Zimmer. Ein Garten, wo bekannte
Stimmen schallen, mit denen sich mir doch heute keine Person
mehr verknüpft. Eine Straße, von der ich noch meine, ich kann
die Steine zählen, von der ich aber nicht mehr weiß, wo sie
ist. Ich muß mir berichten lassen. Du warst ein Kind, da
und da; Andere, Aeltere wissen es noch. Noch eine Stufe und
ich sehe gar nichts mehr.

Für meine eigene Erinnerung bin ich jetzt verloren, ewig
verloren. Jetzt weiß ich nur noch durch Andere. Aber selbst
dieser Faden wird dünn. Ein Geburtsdatum, amtlich gestempelt.
Das ist unwiderleglich. Aber was ist "Geburt"? Ein schon
in gewissem Sinne "reifer" Organismus hat sich von der
Mutter gelöst. Neun dunkle Monate. Im ersten "war" ich
schon, aber ich war noch nicht Mensch. So lehrt die Natur¬
geschichte. Meine Keimform war noch nicht einmal menschen¬
ähnlich. Und dieser Keim entstand zuletzt durch einen Zeugungs¬
akt ....

Hier taucht mein Leben vollends zurück. Meine Eltern,
-- Schleier legen sich darüber. Heilige Liebesempfindungen.
Und dann gehe ich ein als Doppelwesen in beide, als Samen¬
zelle hier, als Eizelle dort. Jede Zelle in den Riesenverband
eines anderen Körpers. Das Licht brennt ganz düster. Jetzt
brauche ich nicht mehr bloß fremde menschliche Tradition --
und seien es selbst diskreteste menschliche Bekenntnisse. Ich ge¬
rate mir selber ins ultraviolette Wunderland der Philosophie ....

ungeheure Dummheiten, die ich als überwunden fühle, ein¬
zelne brauchbare Staffeln, die hinan führten. In allem aber
ganz unzweideutig „ich“. Das geht hinab und hinab. Nun
wird es immer blaſſer, immer undeutlicher. Handlungen
tauchen auf, die mir doch ſchon faſt fremd ſind. Auch inner¬
lich fremd. Man hat ja allerhand Blödſinn begangen, weil
man es nicht beſſer wußte. Aber kann ich je ſo herzerweichend
dumm, ſo grün, ſo „kindiſch“ gehandelt haben? Noch tiefer —
und es ſind nur noch Schemen da. Eine ſchwarzgoldige
Tapete in einem fremden Zimmer. Ein Garten, wo bekannte
Stimmen ſchallen, mit denen ſich mir doch heute keine Perſon
mehr verknüpft. Eine Straße, von der ich noch meine, ich kann
die Steine zählen, von der ich aber nicht mehr weiß, wo ſie
iſt. Ich muß mir berichten laſſen. Du warſt ein Kind, da
und da; Andere, Aeltere wiſſen es noch. Noch eine Stufe und
ich ſehe gar nichts mehr.

Für meine eigene Erinnerung bin ich jetzt verloren, ewig
verloren. Jetzt weiß ich nur noch durch Andere. Aber ſelbſt
dieſer Faden wird dünn. Ein Geburtsdatum, amtlich geſtempelt.
Das iſt unwiderleglich. Aber was iſt „Geburt“? Ein ſchon
in gewiſſem Sinne „reifer“ Organismus hat ſich von der
Mutter gelöſt. Neun dunkle Monate. Im erſten „war“ ich
ſchon, aber ich war noch nicht Menſch. So lehrt die Natur¬
geſchichte. Meine Keimform war noch nicht einmal menſchen¬
ähnlich. Und dieſer Keim entſtand zuletzt durch einen Zeugungs¬
akt ....

Hier taucht mein Leben vollends zurück. Meine Eltern,
— Schleier legen ſich darüber. Heilige Liebesempfindungen.
Und dann gehe ich ein als Doppelweſen in beide, als Samen¬
zelle hier, als Eizelle dort. Jede Zelle in den Rieſenverband
eines anderen Körpers. Das Licht brennt ganz düſter. Jetzt
brauche ich nicht mehr bloß fremde menſchliche Tradition —
und ſeien es ſelbſt diskreteſte menſchliche Bekenntniſſe. Ich ge¬
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[21/0037] ungeheure Dummheiten, die ich als überwunden fühle, ein¬ zelne brauchbare Staffeln, die hinan führten. In allem aber ganz unzweideutig „ich“. Das geht hinab und hinab. Nun wird es immer blaſſer, immer undeutlicher. Handlungen tauchen auf, die mir doch ſchon faſt fremd ſind. Auch inner¬ lich fremd. Man hat ja allerhand Blödſinn begangen, weil man es nicht beſſer wußte. Aber kann ich je ſo herzerweichend dumm, ſo grün, ſo „kindiſch“ gehandelt haben? Noch tiefer — und es ſind nur noch Schemen da. Eine ſchwarzgoldige Tapete in einem fremden Zimmer. Ein Garten, wo bekannte Stimmen ſchallen, mit denen ſich mir doch heute keine Perſon mehr verknüpft. Eine Straße, von der ich noch meine, ich kann die Steine zählen, von der ich aber nicht mehr weiß, wo ſie iſt. Ich muß mir berichten laſſen. Du warſt ein Kind, da und da; Andere, Aeltere wiſſen es noch. Noch eine Stufe und ich ſehe gar nichts mehr. Für meine eigene Erinnerung bin ich jetzt verloren, ewig verloren. Jetzt weiß ich nur noch durch Andere. Aber ſelbſt dieſer Faden wird dünn. Ein Geburtsdatum, amtlich geſtempelt. Das iſt unwiderleglich. Aber was iſt „Geburt“? Ein ſchon in gewiſſem Sinne „reifer“ Organismus hat ſich von der Mutter gelöſt. Neun dunkle Monate. Im erſten „war“ ich ſchon, aber ich war noch nicht Menſch. So lehrt die Natur¬ geſchichte. Meine Keimform war noch nicht einmal menſchen¬ ähnlich. Und dieſer Keim entſtand zuletzt durch einen Zeugungs¬ akt .... Hier taucht mein Leben vollends zurück. Meine Eltern, — Schleier legen ſich darüber. Heilige Liebesempfindungen. Und dann gehe ich ein als Doppelweſen in beide, als Samen¬ zelle hier, als Eizelle dort. Jede Zelle in den Rieſenverband eines anderen Körpers. Das Licht brennt ganz düſter. Jetzt brauche ich nicht mehr bloß fremde menſchliche Tradition — und ſeien es ſelbſt diskreteſte menſchliche Bekenntniſſe. Ich ge¬ rate mir ſelber ins ultraviolette Wunderland der Philoſophie ....

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/37>, abgerufen am 28.04.2024.