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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen
Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung
der Brahmanen endlich über die Ritter- und Adelskaste, und
sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus
der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Re-
ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem
gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester,
Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung,
mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu
blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über-
lieszen. 3

Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge-
schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann
bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth-
wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde
so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden
Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch
alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens
gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich
hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge-
schlecht zu Geschlecht überliefert wurde.

Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats,
nicht ein Bestandtheil der Statsverfassung. Vielmehr ist der
Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben
untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse
beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um
deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich,
als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er
kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent-
wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn
ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz
scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats-

3 Ich habe diese Ansicht näher begründet in der Schrift: Die Alt-
asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.

Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten.
über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen
Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung
der Brahmanen endlich über die Ritter- und Adelskaste, und
sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus
der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Re-
ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem
gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester,
Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung,
mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu
blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über-
lieszen. 3

Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge-
schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann
bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth-
wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde
so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden
Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch
alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens
gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich
hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge-
schlecht zu Geschlecht überliefert wurde.

Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats,
nicht ein Bestandtheil der Statsverfassung. Vielmehr ist der
Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben
untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse
beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um
deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich,
als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er
kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent-
wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn
ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz
scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats-

3 Ich habe diese Ansicht näher begründet in der Schrift: Die Alt-
asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.
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[127/0145] Siebentes Capitel. V. Kasten. Stände. Classen. A. Die Kasten. über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung der Brahmanen endlich über die Ritter- und Adelskaste, und sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Re- ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester, Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung, mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über- lieszen. 3 Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge- schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth- wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge- schlecht zu Geschlecht überliefert wurde. Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats, nicht ein Bestandtheil der Statsverfassung. Vielmehr ist der Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich, als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent- wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats- 3 Ich habe diese Ansicht näher begründet in der Schrift: Die Alt- asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/145>, abgerufen am 26.04.2024.