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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine pba_049.002
Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben pba_049.003
tot trotz des erlogenen Scheines von Leben.



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V.

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Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist pba_049.006
die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis pba_049.007
derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren pba_049.008
Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede pba_049.009
war, noch nicht erschöpft. Wie oben1 schon erwähnt, kommt eine dritte pba_049.010
Hauptgattung
hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen pba_049.011
"Ethos" zusammengefaßt wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung pba_049.012
verlangt.

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Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien pba_049.014
ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen läßt, so nimmt doch pba_049.015
unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung pba_049.016
von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die pba_049.017
bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein. pba_049.018
Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am pba_049.019
meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes, pba_049.020
welches fast immer irgend einen kleinen Vorgang, eine, wenn pba_049.021
auch noch so flüchtig skizzirte, Handlung entrollt.

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Daß hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke pba_049.023
dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines pba_049.024
Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der pba_049.025
Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten pba_049.026
kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muß für die Grenzbestimmung pba_049.027
der beiden Gebiete sehr förderlich sein.

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Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von pba_049.029
Handlungen angewandten "Folgen von Veränderungen" keineswegs auch pba_049.030
immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige pba_049.031
Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den pba_049.032
Namen der Thätigkeit weit eigentlicher verdient als das äußere Thun. pba_049.033
Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe pba_049.034
von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne pba_049.035
den Prozeß des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich pba_049.036
erfahren zu haben; umgekehrt kann die höchste Thätigkeit sich ohne alle

1 pba_049.037
Vgl. oben S. 22.

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So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine pba_049.002
Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben pba_049.003
tot trotz des erlogenen Scheines von Leben.



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V.

pba_049.005
Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist pba_049.006
die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis pba_049.007
derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren pba_049.008
Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede pba_049.009
war, noch nicht erschöpft. Wie oben1 schon erwähnt, kommt eine dritte pba_049.010
Hauptgattung
hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen pba_049.011
Ethos“ zusammengefaßt wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung pba_049.012
verlangt.

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Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien pba_049.014
ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen läßt, so nimmt doch pba_049.015
unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung pba_049.016
von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die pba_049.017
bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein. pba_049.018
Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am pba_049.019
meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes, pba_049.020
welches fast immer irgend einen kleinen Vorgang, eine, wenn pba_049.021
auch noch so flüchtig skizzirte, Handlung entrollt.

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Daß hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke pba_049.023
dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines pba_049.024
Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der pba_049.025
Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten pba_049.026
kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muß für die Grenzbestimmung pba_049.027
der beiden Gebiete sehr förderlich sein.

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Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von pba_049.029
Handlungen angewandten „Folgen von Veränderungen“ keineswegs auch pba_049.030
immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige pba_049.031
Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den pba_049.032
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Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe pba_049.034
von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne pba_049.035
den Prozeß des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich pba_049.036
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Vgl. oben S. 22.
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/67>, abgerufen am 26.04.2024.