der Erwartung. Da denk ich an den Rhein bei Bin- gen, wie da plötzlich seine lichte, majestätische Breite sich einengt zwischen düsteren Felsen zischend und brausend, sich durch Schluchten windet, und nie werden die Ufer wieder so ruhig, so kindlich schön wie sie vor der Bin- ger Untiefe waren; solche Untiefen stehen mir also be- vor, wo sich der Lebensgeist durch schauerliche Schluch- ten winden muß. Muth! die Welt ist rund, wir kehren zurück mit erhöhten Kräften und doppeltem Reiz, die Sehnsucht streut gleich beim Abschied schon den Saamen der Wiederkehr; so bin ich nie von Dir geschieden, ohne zugleich mit Begeisterung der Zukunft zu gedenken, die mich in deinen Armen wieder empfangen werde, so mag wohl alle Trauer um die Abgeschiednen ein bescheidner Vorgenuß einer zukünftigen Wiedervereinigung sein, ge- wiß, sonst würden keine solche Empfindungen der Sehn- sucht das Herz durchdringen.
20. Mai.
Am Ende März war's wohl wie ich Dir zum letz- tenmal von Landshut aus schrieb; ja, ich hab lange ge- schwiegen, beinah zwei Monate, heute erhielt ich durch Sailer von Landshut deine liebe Zeilen vom 10. Mai,
der Erwartung. Da denk ich an den Rhein bei Bin- gen, wie da plötzlich ſeine lichte, majeſtätiſche Breite ſich einengt zwiſchen düſteren Felſen ziſchend und brauſend, ſich durch Schluchten windet, und nie werden die Ufer wieder ſo ruhig, ſo kindlich ſchön wie ſie vor der Bin- ger Untiefe waren; ſolche Untiefen ſtehen mir alſo be- vor, wo ſich der Lebensgeiſt durch ſchauerliche Schluch- ten winden muß. Muth! die Welt iſt rund, wir kehren zurück mit erhöhten Kräften und doppeltem Reiz, die Sehnſucht ſtreut gleich beim Abſchied ſchon den Saamen der Wiederkehr; ſo bin ich nie von Dir geſchieden, ohne zugleich mit Begeiſterung der Zukunft zu gedenken, die mich in deinen Armen wieder empfangen werde, ſo mag wohl alle Trauer um die Abgeſchiednen ein beſcheidner Vorgenuß einer zukünftigen Wiedervereinigung ſein, ge- wiß, ſonſt würden keine ſolche Empfindungen der Sehn- ſucht das Herz durchdringen.
20. Mai.
Am Ende März war's wohl wie ich Dir zum letz- tenmal von Landshut aus ſchrieb; ja, ich hab lange ge- ſchwiegen, beinah zwei Monate, heute erhielt ich durch Sailer von Landshut deine liebe Zeilen vom 10. Mai,
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der Erwartung. Da denk ich an den Rhein bei Bin-
gen, wie da plötzlich ſeine lichte, majeſtätiſche Breite ſich
einengt zwiſchen düſteren Felſen ziſchend und brauſend,
ſich durch Schluchten windet, und nie werden die Ufer
wieder ſo ruhig, ſo kindlich ſchön wie ſie vor der Bin-
ger Untiefe waren; ſolche Untiefen ſtehen mir alſo be-
vor, wo ſich der Lebensgeiſt durch ſchauerliche Schluch-
ten winden muß. Muth! die Welt iſt rund, wir kehren
zurück mit erhöhten Kräften und doppeltem Reiz, die
Sehnſucht ſtreut gleich beim Abſchied ſchon den Saamen
der Wiederkehr; ſo bin ich nie von Dir geſchieden, ohne
zugleich mit Begeiſterung der Zukunft zu gedenken, die
mich in deinen Armen wieder empfangen werde, ſo mag
wohl alle Trauer um die Abgeſchiednen ein beſcheidner
Vorgenuß einer zukünftigen Wiedervereinigung ſein, ge-
wiß, ſonſt würden keine ſolche Empfindungen der Sehn-
ſucht das Herz durchdringen.
20. Mai.
Am Ende März war's wohl wie ich Dir zum letz-
tenmal von Landshut aus ſchrieb; ja, ich hab lange ge-
ſchwiegen, beinah zwei Monate, heute erhielt ich durch
Sailer von Landshut deine liebe Zeilen vom 10. Mai,
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/189>, abgerufen am 03.12.2024.
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