ist, aber entfallen kann es für lange Zeit, oft wenn wir es brauchen, recht eifrig ihm nachsinnen und denken. Es giebt eine Zukunft und eine Vergangenheit des Geistes, wie es eine Ge- genwart des Geistes giebt, und ohne jene, wer hat diese?
Berlin im Januar 1805.
Ludwig Achim von Arnim.
Nachschrift an den Leser.
Herr Kapellmeister Reichardt hat einen Theil des vorstehenden Sendschrei- bens in seiner geachteten musikalischen Zeitung bekannt gemacht; er for- derte bei dieser Gelegenheit von mir den Abdruck des Ganzen. Wie er- freulich ist es mir, etwas zu thun, was ihm lieb und würdig schien, in- dem ich zugleich für den Zweck dieser Betrachtungen der Volkslieder durch die Sammlung aus dem Wunderhorne mitwirke. Von dieser unsrer Samm- lung kann ich nur mit ungemeiner Neigung reden, sie ist mir jezt das liebste Buch, was ich kenne, nicht was mein Freund Brentano und ich dafür gethan, ungeachtet es gern geschehen, sondern was innerlich darin ist und weht, die frische Morgenluft altdeutschen Wandels. Wär ich ein Bienenvater, ich würde sagen, es war der lezte Bienenstock, er wollte eben wegschwärmen, es hat uns wohl Mühe gemacht, ihn im alten Hause zu sammeln, bewahrt ihn, stört ihn nicht, genießt seines Honigs wie recht. Unrecht ist es, für die einzelne Schönheit einer Gegend aufzuwek- ken, den sie in schönere Träume vertieft, darum kein näheres Wort über die bedeutende Schönheit jedes einzelnen dieser Lieder, blos literarische Merkwürdigkeit ist meines Wissens keins, jedes athmet, pulsirt in sich, lau- ter frische, spielende, ringende Kinder, keine hölzerne Puppen, die selbst- echte Dichter, aus Angewohnheit des Bildens, ihren echten Kindern nach- machen. -- Dem verständigen Leser wird dies zum aufmerkenden Lesen ge- nügen; was die Recenseuten anbelangt, sie lesen dies so wenig als das übrige, wir lesen sie dafür eben so wenig, so sind wir miteinander im ewigen Frieden.
Heidelberg im Juli 1805.
iſt, aber entfallen kann es fuͤr lange Zeit, oft wenn wir es brauchen, recht eifrig ihm nachſinnen und denken. Es giebt eine Zukunft und eine Vergangenheit des Geiſtes, wie es eine Ge- genwart des Geiſtes giebt, und ohne jene, wer hat dieſe?
Berlin im Januar 1805.
Ludwig Achim von Arnim.
Nachſchrift an den Leſer.
Herr Kapellmeiſter Reichardt hat einen Theil des vorſtehenden Sendſchrei- bens in ſeiner geachteten muſikaliſchen Zeitung bekannt gemacht; er for- derte bei dieſer Gelegenheit von mir den Abdruck des Ganzen. Wie er- freulich iſt es mir, etwas zu thun, was ihm lieb und wuͤrdig ſchien, in- dem ich zugleich fuͤr den Zweck dieſer Betrachtungen der Volkslieder durch die Sammlung aus dem Wunderhorne mitwirke. Von dieſer unſrer Samm- lung kann ich nur mit ungemeiner Neigung reden, ſie iſt mir jezt das liebſte Buch, was ich kenne, nicht was mein Freund Brentano und ich dafuͤr gethan, ungeachtet es gern geſchehen, ſondern was innerlich darin iſt und weht, die friſche Morgenluft altdeutſchen Wandels. Waͤr ich ein Bienenvater, ich wuͤrde ſagen, es war der lezte Bienenſtock, er wollte eben wegſchwaͤrmen, es hat uns wohl Muͤhe gemacht, ihn im alten Hauſe zu ſammeln, bewahrt ihn, ſtoͤrt ihn nicht, genießt ſeines Honigs wie recht. Unrecht iſt es, fuͤr die einzelne Schoͤnheit einer Gegend aufzuwek- ken, den ſie in ſchoͤnere Traͤume vertieft, darum kein naͤheres Wort uͤber die bedeutende Schoͤnheit jedes einzelnen dieſer Lieder, blos literariſche Merkwuͤrdigkeit iſt meines Wiſſens keins, jedes athmet, pulſirt in ſich, lau- ter friſche, ſpielende, ringende Kinder, keine hoͤlzerne Puppen, die ſelbſt- echte Dichter, aus Angewohnheit des Bildens, ihren echten Kindern nach- machen. — Dem verſtaͤndigen Leſer wird dies zum aufmerkenden Leſen ge- nuͤgen; was die Recenſeuten anbelangt, ſie leſen dies ſo wenig als das uͤbrige, wir leſen ſie dafuͤr eben ſo wenig, ſo ſind wir miteinander im ewigen Frieden.
Heidelberg im Juli 1805.
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[464[474]/0483]
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brauchen, recht eifrig ihm nachſinnen und denken. Es giebt eine
Zukunft und eine Vergangenheit des Geiſtes, wie es eine Ge-
genwart des Geiſtes giebt, und ohne jene, wer hat dieſe?
Berlin im Januar 1805.
Ludwig Achim von Arnim.
Nachſchrift an den Leſer.
Herr Kapellmeiſter Reichardt hat einen Theil des vorſtehenden Sendſchrei-
bens in ſeiner geachteten muſikaliſchen Zeitung bekannt gemacht; er for-
derte bei dieſer Gelegenheit von mir den Abdruck des Ganzen. Wie er-
freulich iſt es mir, etwas zu thun, was ihm lieb und wuͤrdig ſchien, in-
dem ich zugleich fuͤr den Zweck dieſer Betrachtungen der Volkslieder durch
die Sammlung aus dem Wunderhorne mitwirke. Von dieſer unſrer Samm-
lung kann ich nur mit ungemeiner Neigung reden, ſie iſt mir jezt das
liebſte Buch, was ich kenne, nicht was mein Freund Brentano und ich
dafuͤr gethan, ungeachtet es gern geſchehen, ſondern was innerlich darin
iſt und weht, die friſche Morgenluft altdeutſchen Wandels. Waͤr ich ein
Bienenvater, ich wuͤrde ſagen, es war der lezte Bienenſtock, er wollte
eben wegſchwaͤrmen, es hat uns wohl Muͤhe gemacht, ihn im alten Hauſe
zu ſammeln, bewahrt ihn, ſtoͤrt ihn nicht, genießt ſeines Honigs wie
recht. Unrecht iſt es, fuͤr die einzelne Schoͤnheit einer Gegend aufzuwek-
ken, den ſie in ſchoͤnere Traͤume vertieft, darum kein naͤheres Wort uͤber
die bedeutende Schoͤnheit jedes einzelnen dieſer Lieder, blos literariſche
Merkwuͤrdigkeit iſt meines Wiſſens keins, jedes athmet, pulſirt in ſich, lau-
ter friſche, ſpielende, ringende Kinder, keine hoͤlzerne Puppen, die ſelbſt-
echte Dichter, aus Angewohnheit des Bildens, ihren echten Kindern nach-
machen. — Dem verſtaͤndigen Leſer wird dies zum aufmerkenden Leſen ge-
nuͤgen; was die Recenſeuten anbelangt, ſie leſen dies ſo wenig als das
uͤbrige, wir leſen ſie dafuͤr eben ſo wenig, ſo ſind wir miteinander im
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Heidelberg im Juli 1805.
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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 464[474]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/483>, abgerufen am 21.12.2024.
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