Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ich kann, ich will, ich darf aber nicht bleiben. Waldrich, ist das Ihr Ernst? Sie werden machen, daß ich Ihnen zeitlebens böse werde. Und Sie wollen meinen Tod, wenn Sie mich zwingen, Ihr Hochzeitsgast zu sein. Sie sollen nie zu meiner Hochzeit eingeladen werden. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mein Jawort schon gegeben? Sie dürfen es nicht verweigern. Und, ach Gott, ich kann es doch nicht geben! schluchzte das Fräulein und verhüllte ihr Gesicht. Auch Waldrich ward von seinem geheimen Schmerz übermannt. Dies war das erstemal, daß Beide unter sich diesen Gegenstand berührten, obgleich er ihnen nie aus dem Sinn gekommen war. Am letzten Geburtstage, als Beide zum erstenmal von der Gewißheit oder Möglichkeit erschreckt wurden, sich in Zukunft nicht mehr sein zu können, was sie bisher in unbefangener Fortsetzung jugendlicher Zusammengewöhnung gewesen waren, hatten sie zum erstenmal in sich erkannt, mit welcher Liebe sie an einander hingen. Beide betrachteten sich seit jenen verrätherischen drei Festtagsküssen mit ganz andern Augen. Beide verstanden sich; wußten, daß sie liebten und geliebt wurden, ohne es weiter einander mit Worten zu sagen. In Beiden war plötzlich das ruhige alles verschönernde Licht der Freundschaft zur Flamme geworden. Beide wollten diese vor Ich kann, ich will, ich darf aber nicht bleiben. Waldrich, ist das Ihr Ernst? Sie werden machen, daß ich Ihnen zeitlebens böse werde. Und Sie wollen meinen Tod, wenn Sie mich zwingen, Ihr Hochzeitsgast zu sein. Sie sollen nie zu meiner Hochzeit eingeladen werden. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mein Jawort schon gegeben? Sie dürfen es nicht verweigern. Und, ach Gott, ich kann es doch nicht geben! schluchzte das Fräulein und verhüllte ihr Gesicht. Auch Waldrich ward von seinem geheimen Schmerz übermannt. Dies war das erstemal, daß Beide unter sich diesen Gegenstand berührten, obgleich er ihnen nie aus dem Sinn gekommen war. Am letzten Geburtstage, als Beide zum erstenmal von der Gewißheit oder Möglichkeit erschreckt wurden, sich in Zukunft nicht mehr sein zu können, was sie bisher in unbefangener Fortsetzung jugendlicher Zusammengewöhnung gewesen waren, hatten sie zum erstenmal in sich erkannt, mit welcher Liebe sie an einander hingen. Beide betrachteten sich seit jenen verrätherischen drei Festtagsküssen mit ganz andern Augen. Beide verstanden sich; wußten, daß sie liebten und geliebt wurden, ohne es weiter einander mit Worten zu sagen. In Beiden war plötzlich das ruhige alles verschönernde Licht der Freundschaft zur Flamme geworden. Beide wollten diese vor <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="9"> <pb facs="#f0056"/> <p>Ich kann, ich will, ich darf aber nicht bleiben.</p><lb/> <p>Waldrich, ist das Ihr Ernst? Sie werden machen, daß ich Ihnen zeitlebens böse werde.</p><lb/> <p>Und Sie wollen meinen Tod, wenn Sie mich zwingen, Ihr Hochzeitsgast zu sein.</p><lb/> <p>Sie sollen nie zu meiner Hochzeit eingeladen werden. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mein Jawort schon gegeben?</p><lb/> <p>Sie dürfen es nicht verweigern.</p><lb/> <p>Und, ach Gott, ich kann es doch nicht geben! schluchzte das Fräulein und verhüllte ihr Gesicht. Auch Waldrich ward von seinem geheimen Schmerz übermannt. Dies war das erstemal, daß Beide unter sich diesen Gegenstand berührten, obgleich er ihnen nie aus dem Sinn gekommen war. Am letzten Geburtstage, als Beide zum erstenmal von der Gewißheit oder Möglichkeit erschreckt wurden, sich in Zukunft nicht mehr sein zu können, was sie bisher in unbefangener Fortsetzung jugendlicher Zusammengewöhnung gewesen waren, hatten sie zum erstenmal in sich erkannt, mit welcher Liebe sie an einander hingen. Beide betrachteten sich seit jenen verrätherischen drei Festtagsküssen mit ganz andern Augen. Beide verstanden sich; wußten, daß sie liebten und geliebt wurden, ohne es weiter einander mit Worten zu sagen. In Beiden war plötzlich das ruhige alles verschönernde Licht der Freundschaft zur Flamme geworden. Beide wollten diese vor<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0056]
Ich kann, ich will, ich darf aber nicht bleiben.
Waldrich, ist das Ihr Ernst? Sie werden machen, daß ich Ihnen zeitlebens böse werde.
Und Sie wollen meinen Tod, wenn Sie mich zwingen, Ihr Hochzeitsgast zu sein.
Sie sollen nie zu meiner Hochzeit eingeladen werden. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mein Jawort schon gegeben?
Sie dürfen es nicht verweigern.
Und, ach Gott, ich kann es doch nicht geben! schluchzte das Fräulein und verhüllte ihr Gesicht. Auch Waldrich ward von seinem geheimen Schmerz übermannt. Dies war das erstemal, daß Beide unter sich diesen Gegenstand berührten, obgleich er ihnen nie aus dem Sinn gekommen war. Am letzten Geburtstage, als Beide zum erstenmal von der Gewißheit oder Möglichkeit erschreckt wurden, sich in Zukunft nicht mehr sein zu können, was sie bisher in unbefangener Fortsetzung jugendlicher Zusammengewöhnung gewesen waren, hatten sie zum erstenmal in sich erkannt, mit welcher Liebe sie an einander hingen. Beide betrachteten sich seit jenen verrätherischen drei Festtagsküssen mit ganz andern Augen. Beide verstanden sich; wußten, daß sie liebten und geliebt wurden, ohne es weiter einander mit Worten zu sagen. In Beiden war plötzlich das ruhige alles verschönernde Licht der Freundschaft zur Flamme geworden. Beide wollten diese vor
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