Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sträubte, den Geldbeutel zu kleinen Ausgaben allmonatlich mit kleiner Münze versah. Waldrich commandirte nicht nur in der Stadt, sondern auch im Hause; gab zu allen Angelegenheiten sein Wort und half entscheiden, wo man stritt. Auch zwischen Friederiken und ihm, wie sie sich allmählich zu einander gewöhnt und gleichsam vergessen hatten, daß sie groß geworden waren, erneuerte sich ganz unabsichtlich der Ton der Kindheitszeit. Sie lebten einander, wie damals, gefällig; zankten aber auch, wie damals, nicht selten mit einander, und zwischen dem höflicheren Sie sprang oft ganz unberechnet ein Du hervor, nichts weniger als das Du der Zärtlichkeit, sondern das mürrische Du des Vorwurfs. Zwar in der Stadt machten alte und junge Frauen, auch alte und junge Mädchen, wie es so zu geschehen pflegt, ihre frauen- und mädchenhaften Anmerkungen über Waldrich's Verhältnisse. Denn die Herbesheimerinnen hatten ein Vorurtheil, das sonst in andern Städten dem weiblichen Geschlechte gar nicht eigen ist: daß nämlich ein junger Mann von achtundzwanzig und ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren schlechterdings keine vier Wochen mit einander unter Einem Dache wohnen könnten, ohne zuletzt, wenn sie einander sähen, Herzklopfen zu haben. Unter dem Dache des Herrn Bantes war aber so wenig vom Herzklopfen die Rede, daß man Tage lang beisammen oder getrennt sein konnte, ohne zu empfinden, wo das sträubte, den Geldbeutel zu kleinen Ausgaben allmonatlich mit kleiner Münze versah. Waldrich commandirte nicht nur in der Stadt, sondern auch im Hause; gab zu allen Angelegenheiten sein Wort und half entscheiden, wo man stritt. Auch zwischen Friederiken und ihm, wie sie sich allmählich zu einander gewöhnt und gleichsam vergessen hatten, daß sie groß geworden waren, erneuerte sich ganz unabsichtlich der Ton der Kindheitszeit. Sie lebten einander, wie damals, gefällig; zankten aber auch, wie damals, nicht selten mit einander, und zwischen dem höflicheren Sie sprang oft ganz unberechnet ein Du hervor, nichts weniger als das Du der Zärtlichkeit, sondern das mürrische Du des Vorwurfs. Zwar in der Stadt machten alte und junge Frauen, auch alte und junge Mädchen, wie es so zu geschehen pflegt, ihre frauen- und mädchenhaften Anmerkungen über Waldrich's Verhältnisse. Denn die Herbesheimerinnen hatten ein Vorurtheil, das sonst in andern Städten dem weiblichen Geschlechte gar nicht eigen ist: daß nämlich ein junger Mann von achtundzwanzig und ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren schlechterdings keine vier Wochen mit einander unter Einem Dache wohnen könnten, ohne zuletzt, wenn sie einander sähen, Herzklopfen zu haben. Unter dem Dache des Herrn Bantes war aber so wenig vom Herzklopfen die Rede, daß man Tage lang beisammen oder getrennt sein konnte, ohne zu empfinden, wo das <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0028"/> sträubte, den Geldbeutel zu kleinen Ausgaben allmonatlich mit kleiner Münze versah. Waldrich commandirte nicht nur in der Stadt, sondern auch im Hause; gab zu allen Angelegenheiten sein Wort und half entscheiden, wo man stritt. Auch zwischen Friederiken und ihm, wie sie sich allmählich zu einander gewöhnt und gleichsam vergessen hatten, daß sie groß geworden waren, erneuerte sich ganz unabsichtlich der Ton der Kindheitszeit. Sie lebten einander, wie damals, gefällig; zankten aber auch, wie damals, nicht selten mit einander, und zwischen dem höflicheren Sie sprang oft ganz unberechnet ein Du hervor, nichts weniger als das Du der Zärtlichkeit, sondern das mürrische Du des Vorwurfs.</p><lb/> <p>Zwar in der Stadt machten alte und junge Frauen, auch alte und junge Mädchen, wie es so zu geschehen pflegt, ihre frauen- und mädchenhaften Anmerkungen über Waldrich's Verhältnisse. Denn die Herbesheimerinnen hatten ein Vorurtheil, das sonst in andern Städten dem weiblichen Geschlechte gar nicht eigen ist: daß nämlich ein junger Mann von achtundzwanzig und ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren schlechterdings keine vier Wochen mit einander unter Einem Dache wohnen könnten, ohne zuletzt, wenn sie einander sähen, Herzklopfen zu haben. Unter dem Dache des Herrn Bantes war aber so wenig vom Herzklopfen die Rede, daß man Tage lang beisammen oder getrennt sein konnte, ohne zu empfinden, wo das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
sträubte, den Geldbeutel zu kleinen Ausgaben allmonatlich mit kleiner Münze versah. Waldrich commandirte nicht nur in der Stadt, sondern auch im Hause; gab zu allen Angelegenheiten sein Wort und half entscheiden, wo man stritt. Auch zwischen Friederiken und ihm, wie sie sich allmählich zu einander gewöhnt und gleichsam vergessen hatten, daß sie groß geworden waren, erneuerte sich ganz unabsichtlich der Ton der Kindheitszeit. Sie lebten einander, wie damals, gefällig; zankten aber auch, wie damals, nicht selten mit einander, und zwischen dem höflicheren Sie sprang oft ganz unberechnet ein Du hervor, nichts weniger als das Du der Zärtlichkeit, sondern das mürrische Du des Vorwurfs.
Zwar in der Stadt machten alte und junge Frauen, auch alte und junge Mädchen, wie es so zu geschehen pflegt, ihre frauen- und mädchenhaften Anmerkungen über Waldrich's Verhältnisse. Denn die Herbesheimerinnen hatten ein Vorurtheil, das sonst in andern Städten dem weiblichen Geschlechte gar nicht eigen ist: daß nämlich ein junger Mann von achtundzwanzig und ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren schlechterdings keine vier Wochen mit einander unter Einem Dache wohnen könnten, ohne zuletzt, wenn sie einander sähen, Herzklopfen zu haben. Unter dem Dache des Herrn Bantes war aber so wenig vom Herzklopfen die Rede, daß man Tage lang beisammen oder getrennt sein konnte, ohne zu empfinden, wo das
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Zitationshilfe: | Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/28>, abgerufen am 16.02.2025. |