Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zeit zu lang. Er ging zu seiner Tochter, deren Zimmer nicht weit vom seinigen entfernt war. Sie saß am Fenster allein und betrachtete die köstlichen Armbänder. Was hast du da, Minchen? fragte er mit ungewisser Stimme. Minchen antwortete ganz unbefangen: Ein Geschenk des Herrn von Hahn für Rickchen Bantes. Er reiset morgen früh ab und hat seine Gründe, selbst nicht mehr in das Haus des Herrn Bantes zu gehen. Er ist mir unbegreiflich. Bräutigam, und schon wieder davon reisen! Nun soll ich's ihr geben. Und woher kennst du ihn oder er dich? Als ich diesen Morgen bei Riekchen und ihrer Mutter war, machten wir Bekanntschaft. Es durchschauerte mich, als ich ihn zum erstenmal sah. Der leibhafte todte Gast! Aber er ist ein sehr guter Mensch. Wie er von Ihnen ging, Papa, trat ich eben aus meinem Zimmer. Wir erkannten uns, und er brachte sogleich sein Gesuch an. Minchen erzählte dies so unbefangen, daß dem Bürgermeister, bis auf Nebensachen, Alles klar ward. Doch folgenden Morgens mußte der Polizeidiener sogleich nachspüren, ob der Fremde wirklich, seinem Worte gemäß, abgereiset sei. Zeit zu lang. Er ging zu seiner Tochter, deren Zimmer nicht weit vom seinigen entfernt war. Sie saß am Fenster allein und betrachtete die köstlichen Armbänder. Was hast du da, Minchen? fragte er mit ungewisser Stimme. Minchen antwortete ganz unbefangen: Ein Geschenk des Herrn von Hahn für Rickchen Bantes. Er reiset morgen früh ab und hat seine Gründe, selbst nicht mehr in das Haus des Herrn Bantes zu gehen. Er ist mir unbegreiflich. Bräutigam, und schon wieder davon reisen! Nun soll ich's ihr geben. Und woher kennst du ihn oder er dich? Als ich diesen Morgen bei Riekchen und ihrer Mutter war, machten wir Bekanntschaft. Es durchschauerte mich, als ich ihn zum erstenmal sah. Der leibhafte todte Gast! Aber er ist ein sehr guter Mensch. Wie er von Ihnen ging, Papa, trat ich eben aus meinem Zimmer. Wir erkannten uns, und er brachte sogleich sein Gesuch an. Minchen erzählte dies so unbefangen, daß dem Bürgermeister, bis auf Nebensachen, Alles klar ward. Doch folgenden Morgens mußte der Polizeidiener sogleich nachspüren, ob der Fremde wirklich, seinem Worte gemäß, abgereiset sei. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="16"> <p><pb facs="#f0148"/> Zeit zu lang. Er ging zu seiner Tochter, deren Zimmer nicht weit vom seinigen entfernt war. Sie saß am Fenster allein und betrachtete die köstlichen Armbänder.</p><lb/> <p>Was hast du da, Minchen? fragte er mit ungewisser Stimme.</p><lb/> <p>Minchen antwortete ganz unbefangen: Ein Geschenk des Herrn von Hahn für Rickchen Bantes. Er reiset morgen früh ab und hat seine Gründe, selbst nicht mehr in das Haus des Herrn Bantes zu gehen. Er ist mir unbegreiflich. Bräutigam, und schon wieder davon reisen! Nun soll ich's ihr geben.</p><lb/> <p>Und woher kennst du ihn oder er dich?</p><lb/> <p>Als ich diesen Morgen bei Riekchen und ihrer Mutter war, machten wir Bekanntschaft. Es durchschauerte mich, als ich ihn zum erstenmal sah. Der leibhafte todte Gast! Aber er ist ein sehr guter Mensch. Wie er von Ihnen ging, Papa, trat ich eben aus meinem Zimmer. Wir erkannten uns, und er brachte sogleich sein Gesuch an.</p><lb/> <p>Minchen erzählte dies so unbefangen, daß dem Bürgermeister, bis auf Nebensachen, Alles klar ward. Doch folgenden Morgens mußte der Polizeidiener sogleich nachspüren, ob der Fremde wirklich, seinem Worte gemäß, abgereiset sei.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0148]
Zeit zu lang. Er ging zu seiner Tochter, deren Zimmer nicht weit vom seinigen entfernt war. Sie saß am Fenster allein und betrachtete die köstlichen Armbänder.
Was hast du da, Minchen? fragte er mit ungewisser Stimme.
Minchen antwortete ganz unbefangen: Ein Geschenk des Herrn von Hahn für Rickchen Bantes. Er reiset morgen früh ab und hat seine Gründe, selbst nicht mehr in das Haus des Herrn Bantes zu gehen. Er ist mir unbegreiflich. Bräutigam, und schon wieder davon reisen! Nun soll ich's ihr geben.
Und woher kennst du ihn oder er dich?
Als ich diesen Morgen bei Riekchen und ihrer Mutter war, machten wir Bekanntschaft. Es durchschauerte mich, als ich ihn zum erstenmal sah. Der leibhafte todte Gast! Aber er ist ein sehr guter Mensch. Wie er von Ihnen ging, Papa, trat ich eben aus meinem Zimmer. Wir erkannten uns, und er brachte sogleich sein Gesuch an.
Minchen erzählte dies so unbefangen, daß dem Bürgermeister, bis auf Nebensachen, Alles klar ward. Doch folgenden Morgens mußte der Polizeidiener sogleich nachspüren, ob der Fremde wirklich, seinem Worte gemäß, abgereiset sei.
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Zitationshilfe: | Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/148>, abgerufen am 20.07.2024. |