Habe ich etwa heute jemanden beleidiget oder betrübet? Hat irgend einer von meinen Brüdern Ursache, über mich unzufrieden zu seyn? Seufzet vielleicht itzt irgendwo einer von allen über mich? Vielleicht ein Armer, ein Elender, dem ich hätte helfen können und sollen, und doch nicht geholfen habe? Vielleicht ein Schwacher und Fehlender, dessen Schwach- heiten und Fehler ich nicht getragen, den ich nicht liebreich erinnert, sondern zornig bestraft habe? Vielleicht ein Niedriger, dem ich stolz, ein Schüchterner und Verzagter, dem ich ge- bieterisch und hart begegnet bin?
Habe ich vielleicht die Gemüthsruhe und Zufriedenheit von einem meiner Brüder gestö- ret, und ihm Kummer und Schmerz verursa- chet? Ist vielleicht das Band der Liebe und der Freundschaft zwischen ihm und mir, oder zwischen ihm und andern durch mich geschwächt, oder gar zerrissen worden? Geht vielleicht ir- gend einer durch meine Schuld mit unruhigem, schwerem Herzen nach seiner Ruhestätte? Hab ich etwa zu strenge gegen jemanden geurtheilt? Hab ich ihm vielleicht unverdiente Vorwürfe gemacht? Oder habe ich ihm, von irgend ei- ner übeln Laune beherrscht, kaltsinnig, un-
freund-
Prüfung darüber.
Habe ich etwa heute jemanden beleidiget oder betrübet? Hat irgend einer von meinen Brüdern Urſache, über mich unzufrieden zu ſeyn? Seufzet vielleicht itzt irgendwo einer von allen über mich? Vielleicht ein Armer, ein Elender, dem ich hätte helfen können und ſollen, und doch nicht geholfen habe? Vielleicht ein Schwacher und Fehlender, deſſen Schwach- heiten und Fehler ich nicht getragen, den ich nicht liebreich erinnert, ſondern zornig beſtraft habe? Vielleicht ein Niedriger, dem ich ſtolz, ein Schüchterner und Verzagter, dem ich ge- bieteriſch und hart begegnet bin?
Habe ich vielleicht die Gemüthsruhe und Zufriedenheit von einem meiner Brüder geſtö- ret, und ihm Kummer und Schmerz verurſa- chet? Iſt vielleicht das Band der Liebe und der Freundſchaft zwiſchen ihm und mir, oder zwiſchen ihm und andern durch mich geſchwächt, oder gar zerriſſen worden? Geht vielleicht ir- gend einer durch meine Schuld mit unruhigem, ſchwerem Herzen nach ſeiner Ruheſtätte? Hab ich etwa zu ſtrenge gegen jemanden geurtheilt? Hab ich ihm vielleicht unverdiente Vorwürfe gemacht? Oder habe ich ihm, von irgend ei- ner übeln Laune beherrſcht, kaltſinnig, un-
freund-
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Prüfung darüber.
Habe ich etwa heute jemanden beleidiget
oder betrübet? Hat irgend einer von meinen
Brüdern Urſache, über mich unzufrieden zu
ſeyn? Seufzet vielleicht itzt irgendwo einer von
allen über mich? Vielleicht ein Armer, ein
Elender, dem ich hätte helfen können und ſollen,
und doch nicht geholfen habe? Vielleicht ein
Schwacher und Fehlender, deſſen Schwach-
heiten und Fehler ich nicht getragen, den ich
nicht liebreich erinnert, ſondern zornig beſtraft
habe? Vielleicht ein Niedriger, dem ich ſtolz,
ein Schüchterner und Verzagter, dem ich ge-
bieteriſch und hart begegnet bin?
Habe ich vielleicht die Gemüthsruhe und
Zufriedenheit von einem meiner Brüder geſtö-
ret, und ihm Kummer und Schmerz verurſa-
chet? Iſt vielleicht das Band der Liebe und
der Freundſchaft zwiſchen ihm und mir, oder
zwiſchen ihm und andern durch mich geſchwächt,
oder gar zerriſſen worden? Geht vielleicht ir-
gend einer durch meine Schuld mit unruhigem,
ſchwerem Herzen nach ſeiner Ruheſtätte? Hab
ich etwa zu ſtrenge gegen jemanden geurtheilt?
Hab ich ihm vielleicht unverdiente Vorwürfe
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Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/214>, abgerufen am 28.07.2024.
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