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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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II. Die Schriftlehre vom Urstande.
wicklung des in Schuld und Elend gefallenen Menschen.
Mit anderen Worten: der Fall trat nicht in jäher Plötz-
lichkeit ein; die paradiesische Gottbildlichkeit wurde
dem Menschengeschlechte nicht mit Einem Male in ihrer
Totalität entzogen.
Wäre das Letztere geschehen: die Mensch-
heit hätte sich nie wieder von ihrem Falle erheben gekonnt; die
furchtbare Wucht des Falles würde sie der Möglichkeit einer Rück-
kehr zur Gottgemeinschaft und Gottähnlichkeit für immer beraubt
haben. Verbannung in die Tiefen ewiger Gottentfremdung würde
ihr Loos gewesen, es würde ihr ergangen sein wie der aus ihrer
ursprünglichen Herrschaft entfallenen bösen Engelwelt. -- Mit solcher
oder ähnlicher Betrachtung mag man den nur allmählig und stufen-
weise eingetretenen Verlust des göttlichen Ebenbildes geschichtlich zu
begreifen und in seiner Nothwendigkeit darzuthun suchen. Specu-
lationen dieser Art, deren stets nur hypothetischer Charakter selbst-
verständlich ist, haben in dogmatischen oder religionsphilosophischen
Systemen ihr gutes Recht. Was uns am gegenwärtigen Orte allein
obliegt, ist der Nachweis, daß die h. Schrift thatsächlich die All-
mähligkeit des betr. Entkleidungs- oder Entäußerungsprocesses lehrt,
daß das langsame Verlorengehen und Erbleichen der einstigen Para-
diesesglorie und das Von vorn anfangen und Sich wieder empor-
ringen des gefallenen Geschlechts laut ihrer Darstellung in einander
verflochten vor sich giengen. Dieser Nachweis läßt sich auf befrie-
digende Weise erbringen.

Was vor allem in den biblisch-urgeschichtlichen Berichten klar
hervortritt, ist das allmählige Sinken der dem Paradiese entstam-
menden menschlichen Urkraft und Lebens-Jntegrität in Hinsicht auf
die erreichte Lebensdauer. Die an den Genuß der verbotenen
Paradiesesfrucht geknüpfte göttliche Drohung: "Welches Tages du
davon issest, wirst du des Todes sterben", tritt, nachdem das betr.
Verbot übertreten und die Paradiesesunschuld verloren ist, bei dem
Stammelternpaare sowohl wie bei sämmtlichen Nachkommen in
Kraft; aber sie tritt -- wenigstens im Geschlechte der an der Ge-

II. Die Schriftlehre vom Urſtande.
wicklung des in Schuld und Elend gefallenen Menſchen.
Mit anderen Worten: der Fall trat nicht in jäher Plötz-
lichkeit ein; die paradieſiſche Gottbildlichkeit wurde
dem Menſchengeſchlechte nicht mit Einem Male in ihrer
Totalität entzogen.
Wäre das Letztere geſchehen: die Menſch-
heit hätte ſich nie wieder von ihrem Falle erheben gekonnt; die
furchtbare Wucht des Falles würde ſie der Möglichkeit einer Rück-
kehr zur Gottgemeinſchaft und Gottähnlichkeit für immer beraubt
haben. Verbannung in die Tiefen ewiger Gottentfremdung würde
ihr Loos geweſen, es würde ihr ergangen ſein wie der aus ihrer
urſprünglichen Herrſchaft entfallenen böſen Engelwelt. — Mit ſolcher
oder ähnlicher Betrachtung mag man den nur allmählig und ſtufen-
weiſe eingetretenen Verluſt des göttlichen Ebenbildes geſchichtlich zu
begreifen und in ſeiner Nothwendigkeit darzuthun ſuchen. Specu-
lationen dieſer Art, deren ſtets nur hypothetiſcher Charakter ſelbſt-
verſtändlich iſt, haben in dogmatiſchen oder religionsphiloſophiſchen
Syſtemen ihr gutes Recht. Was uns am gegenwärtigen Orte allein
obliegt, iſt der Nachweis, daß die h. Schrift thatſächlich die All-
mähligkeit des betr. Entkleidungs- oder Entäußerungsproceſſes lehrt,
daß das langſame Verlorengehen und Erbleichen der einſtigen Para-
dieſesglorie und das Von vorn anfangen und Sich wieder empor-
ringen des gefallenen Geſchlechts laut ihrer Darſtellung in einander
verflochten vor ſich giengen. Dieſer Nachweis läßt ſich auf befrie-
digende Weiſe erbringen.

Was vor allem in den bibliſch-urgeſchichtlichen Berichten klar
hervortritt, iſt das allmählige Sinken der dem Paradieſe entſtam-
menden menſchlichen Urkraft und Lebens-Jntegrität in Hinſicht auf
die erreichte Lebensdauer. Die an den Genuß der verbotenen
Paradieſesfrucht geknüpfte göttliche Drohung: „Welches Tages du
davon iſſeſt, wirſt du des Todes ſterben‟, tritt, nachdem das betr.
Verbot übertreten und die Paradieſesunſchuld verloren iſt, bei dem
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[74/0084] II. Die Schriftlehre vom Urſtande. wicklung des in Schuld und Elend gefallenen Menſchen. Mit anderen Worten: der Fall trat nicht in jäher Plötz- lichkeit ein; die paradieſiſche Gottbildlichkeit wurde dem Menſchengeſchlechte nicht mit Einem Male in ihrer Totalität entzogen. Wäre das Letztere geſchehen: die Menſch- heit hätte ſich nie wieder von ihrem Falle erheben gekonnt; die furchtbare Wucht des Falles würde ſie der Möglichkeit einer Rück- kehr zur Gottgemeinſchaft und Gottähnlichkeit für immer beraubt haben. Verbannung in die Tiefen ewiger Gottentfremdung würde ihr Loos geweſen, es würde ihr ergangen ſein wie der aus ihrer urſprünglichen Herrſchaft entfallenen böſen Engelwelt. — Mit ſolcher oder ähnlicher Betrachtung mag man den nur allmählig und ſtufen- weiſe eingetretenen Verluſt des göttlichen Ebenbildes geſchichtlich zu begreifen und in ſeiner Nothwendigkeit darzuthun ſuchen. Specu- lationen dieſer Art, deren ſtets nur hypothetiſcher Charakter ſelbſt- verſtändlich iſt, haben in dogmatiſchen oder religionsphiloſophiſchen Syſtemen ihr gutes Recht. Was uns am gegenwärtigen Orte allein obliegt, iſt der Nachweis, daß die h. Schrift thatſächlich die All- mähligkeit des betr. Entkleidungs- oder Entäußerungsproceſſes lehrt, daß das langſame Verlorengehen und Erbleichen der einſtigen Para- dieſesglorie und das Von vorn anfangen und Sich wieder empor- ringen des gefallenen Geſchlechts laut ihrer Darſtellung in einander verflochten vor ſich giengen. Dieſer Nachweis läßt ſich auf befrie- digende Weiſe erbringen. Was vor allem in den bibliſch-urgeſchichtlichen Berichten klar hervortritt, iſt das allmählige Sinken der dem Paradieſe entſtam- menden menſchlichen Urkraft und Lebens-Jntegrität in Hinſicht auf die erreichte Lebensdauer. Die an den Genuß der verbotenen Paradieſesfrucht geknüpfte göttliche Drohung: „Welches Tages du davon iſſeſt, wirſt du des Todes ſterben‟, tritt, nachdem das betr. Verbot übertreten und die Paradieſesunſchuld verloren iſt, bei dem Stammelternpaare ſowohl wie bei ſämmtlichen Nachkommen in Kraft; aber ſie tritt — wenigſtens im Geſchlechte der an der Ge-

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/84>, abgerufen am 22.11.2024.