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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
seit dem pietistischen Zeitalter wurde man auf diesem Punkte ängst-
licher; und die supranaturalistische und rationalistische Exegese gefiel
sich vorzugsweise in jenen Versuchen zur künstlichen Reduction oder
willkürlichen Hinwegerklärung der patriarchalischen hohen Menschen-
alter, über welche wir später noch zu berichten haben werden. Die
zunehmend laxeren Vorstellungen vom Urstande, welche unter dem
Einflusse der naturalistischen Lehren französischer und englischer Auf-
klärungsphilosophen auch in theologische Kreise eindrangen, rückten
den Gedanken eines langsamen Herabsinkens der Menschheit von
Stufe zu Stufe in immer größere Ferne, sodaß allgemach zusammen
mit der Geschichtlichkeit einer paradiesischen Urvollkommenheit auch
die eines noch halb und halb paradiesischen Geschlechts ältester Erz-
väter vor der Fluth preisgegeben wurde. Jmmerhin verdient es
hier in Erinnerung gebracht zu werden, daß noch mitten im Zeit-
alter des Rationalismus, und zwar zum Theil bei geschichtsphilo-
sophischen Denkern, deren Standpunkt nichts weniger als biblisch
oder kirchlich befangen genannt werden kann, gewisse entferntere
Anklänge an Luthers Patriarchen-Speculationen wahrzunehmen ge-
wesen sind. Es gilt dieß insbesondere von dem älteren Fichte,
dessen "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (1804) eine Ueber-
sicht über den irdischen Entwicklungsgang der Menschheit bieten,
welche auf die allererste Epoche, den "Stand der Unschuld" oder
des Herrschens der Vernunft in der Urform des Jnstincts, eine
zweite Epoche folgen läßt, die als "Stand der anhebenden Sünde"
bezeichnet wird. Diese zweite urgeschichtliche Epoche Fichte's erinnert
in der Art, wie sie den über die Erde zerstreut wohnenden rohen
Wilden, diesen Urvätern oder Vorgängern der heutigen Naturvölker,
ein gewisses "Normalvolk" als siegreichen Träger des Vernunft-
und Culturprincips gegenübertreten läßt, theilweise wenigstens an
Luthers kraftvolle Contrastirung der Kainiten mit den frommen
Sethiten-Patriarchen. Erst die Einwirkung dieses "Normalvolks,
das durch sein bloßes Dasein, ohne alle Wissenschaft oder Kunst,
sich im Zustande der vollkommensten Vernunftcultur befunden", habe

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I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
ſeit dem pietiſtiſchen Zeitalter wurde man auf dieſem Punkte ängſt-
licher; und die ſupranaturaliſtiſche und rationaliſtiſche Exegeſe gefiel
ſich vorzugsweiſe in jenen Verſuchen zur künſtlichen Reduction oder
willkürlichen Hinwegerklärung der patriarchaliſchen hohen Menſchen-
alter, über welche wir ſpäter noch zu berichten haben werden. Die
zunehmend laxeren Vorſtellungen vom Urſtande, welche unter dem
Einfluſſe der naturaliſtiſchen Lehren franzöſiſcher und engliſcher Auf-
klärungsphiloſophen auch in theologiſche Kreiſe eindrangen, rückten
den Gedanken eines langſamen Herabſinkens der Menſchheit von
Stufe zu Stufe in immer größere Ferne, ſodaß allgemach zuſammen
mit der Geſchichtlichkeit einer paradieſiſchen Urvollkommenheit auch
die eines noch halb und halb paradieſiſchen Geſchlechts älteſter Erz-
väter vor der Fluth preisgegeben wurde. Jmmerhin verdient es
hier in Erinnerung gebracht zu werden, daß noch mitten im Zeit-
alter des Rationalismus, und zwar zum Theil bei geſchichtsphilo-
ſophiſchen Denkern, deren Standpunkt nichts weniger als bibliſch
oder kirchlich befangen genannt werden kann, gewiſſe entferntere
Anklänge an Luthers Patriarchen-Speculationen wahrzunehmen ge-
weſen ſind. Es gilt dieß insbeſondere von dem älteren Fichte,
deſſen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters‟ (1804) eine Ueber-
ſicht über den irdiſchen Entwicklungsgang der Menſchheit bieten,
welche auf die allererſte Epoche, den „Stand der Unſchuld‟ oder
des Herrſchens der Vernunft in der Urform des Jnſtincts, eine
zweite Epoche folgen läßt, die als „Stand der anhebenden Sünde‟
bezeichnet wird. Dieſe zweite urgeſchichtliche Epoche Fichte’s erinnert
in der Art, wie ſie den über die Erde zerſtreut wohnenden rohen
Wilden, dieſen Urvätern oder Vorgängern der heutigen Naturvölker,
ein gewiſſes „Normalvolk‟ als ſiegreichen Träger des Vernunft-
und Culturprincips gegenübertreten läßt, theilweiſe wenigſtens an
Luthers kraftvolle Contraſtirung der Kainiten mit den frommen
Sethiten-Patriarchen. Erſt die Einwirkung dieſes „Normalvolks,
das durch ſein bloßes Daſein, ohne alle Wiſſenſchaft oder Kunſt,
ſich im Zuſtande der vollkommenſten Vernunftcultur befunden‟, habe

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[51/0061] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. ſeit dem pietiſtiſchen Zeitalter wurde man auf dieſem Punkte ängſt- licher; und die ſupranaturaliſtiſche und rationaliſtiſche Exegeſe gefiel ſich vorzugsweiſe in jenen Verſuchen zur künſtlichen Reduction oder willkürlichen Hinwegerklärung der patriarchaliſchen hohen Menſchen- alter, über welche wir ſpäter noch zu berichten haben werden. Die zunehmend laxeren Vorſtellungen vom Urſtande, welche unter dem Einfluſſe der naturaliſtiſchen Lehren franzöſiſcher und engliſcher Auf- klärungsphiloſophen auch in theologiſche Kreiſe eindrangen, rückten den Gedanken eines langſamen Herabſinkens der Menſchheit von Stufe zu Stufe in immer größere Ferne, ſodaß allgemach zuſammen mit der Geſchichtlichkeit einer paradieſiſchen Urvollkommenheit auch die eines noch halb und halb paradieſiſchen Geſchlechts älteſter Erz- väter vor der Fluth preisgegeben wurde. Jmmerhin verdient es hier in Erinnerung gebracht zu werden, daß noch mitten im Zeit- alter des Rationalismus, und zwar zum Theil bei geſchichtsphilo- ſophiſchen Denkern, deren Standpunkt nichts weniger als bibliſch oder kirchlich befangen genannt werden kann, gewiſſe entferntere Anklänge an Luthers Patriarchen-Speculationen wahrzunehmen ge- weſen ſind. Es gilt dieß insbeſondere von dem älteren Fichte, deſſen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters‟ (1804) eine Ueber- ſicht über den irdiſchen Entwicklungsgang der Menſchheit bieten, welche auf die allererſte Epoche, den „Stand der Unſchuld‟ oder des Herrſchens der Vernunft in der Urform des Jnſtincts, eine zweite Epoche folgen läßt, die als „Stand der anhebenden Sünde‟ bezeichnet wird. Dieſe zweite urgeſchichtliche Epoche Fichte’s erinnert in der Art, wie ſie den über die Erde zerſtreut wohnenden rohen Wilden, dieſen Urvätern oder Vorgängern der heutigen Naturvölker, ein gewiſſes „Normalvolk‟ als ſiegreichen Träger des Vernunft- und Culturprincips gegenübertreten läßt, theilweiſe wenigſtens an Luthers kraftvolle Contraſtirung der Kainiten mit den frommen Sethiten-Patriarchen. Erſt die Einwirkung dieſes „Normalvolks, das durch ſein bloßes Daſein, ohne alle Wiſſenſchaft oder Kunſt, ſich im Zuſtande der vollkommenſten Vernunftcultur befunden‟, habe 4*

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/61>, abgerufen am 22.11.2024.