Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Augen.1) Minder stark zu heidnischartigen Vorstellungen hinneigend,
aber immerhin doch auch der späteren Ueberspannung der intellec-
tuellen Vollkommenheit des Urstands noch fern bleibend, erscheint
die Genesisdichtung eines jüngeren Hilarius oder Pseudo-Hilarius
(5. Jahrh.) in ihren entsprechenden Partieen. "O du seliges Thier
(animal), deß Vater die Rechte des Höchsten ist" etc., wird daselbst
der neugeschaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be-
harrens ohne Sünde verheißen, daß er "göttlichen Wesens" (numen)
werden solle. Cl. Marius Victor von Massilia (+ um 450) redet
allerdings in etwas stärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der
beseligenden Gottesgeheimnisse, wozu die Menschen im Unschulds-
stande des Paradieses befähigt gewesen seien; aber noch zwei um
mehrere Jahrzehnte jüngere Genesisdichter: Dracontius (um 490)
und Avitus um (500) heben lediglich die selige Unschuld der Proto-
plasten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von
ihnen gebotenen Schilderungen des Urstandes.2) -- Der späteren
kirchlichen Orthodoxie kam diese einfachere und naturgemäßere Be-
trachtungsweise, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt,
mehr und mehr abhanden; und solche Versuche zur Milderung des
widernatürlich Ueberspannten der scholastischen Lehren über Adams
unbegrenztes Wissen, wie beispielsweise Tostatus und Cajetan sie
wagten, halfen dem Uebelstande in Wirklichkeit nicht ab, dienten
vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der
nüchternen Schriftgrundlage um so anschaulicher zu zeigen. -- Erst
in der reformatorischen Theologie fand hie und da Rückkehr zu
diesem Grunde statt und wurde demgemäß der Unterschied zwischen
paradiesischer Unschuld oder ursprünglicher Gerechtigkeit einerseits,
sowie zwischen physischer und intellectueller Vollkommenheit des im
Urstande befindlichen Menschen andrerseits, wieder schärfer wahr-

1) Juvencus, Genes. v. 70: "Nec minus interea coecos nox alta
tenebat" etc.
2) Siehe in Betreff dieser altkirchlichen Genesisdichter m. Gesch. der Bezie-
hungen etc. I, 257--265.

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Augen.1) Minder ſtark zu heidniſchartigen Vorſtellungen hinneigend,
aber immerhin doch auch der ſpäteren Ueberſpannung der intellec-
tuellen Vollkommenheit des Urſtands noch fern bleibend, erſcheint
die Geneſisdichtung eines jüngeren Hilarius oder Pſeudo-Hilarius
(5. Jahrh.) in ihren entſprechenden Partieen. „O du ſeliges Thier
(animal), deß Vater die Rechte des Höchſten iſt‟ ꝛc., wird daſelbſt
der neugeſchaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be-
harrens ohne Sünde verheißen, daß er „göttlichen Weſens‟ (numen)
werden ſolle. Cl. Marius Victor von Maſſilia († um 450) redet
allerdings in etwas ſtärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der
beſeligenden Gottesgeheimniſſe, wozu die Menſchen im Unſchulds-
ſtande des Paradieſes befähigt geweſen ſeien; aber noch zwei um
mehrere Jahrzehnte jüngere Geneſisdichter: Dracontius (um 490)
und Avitus um (500) heben lediglich die ſelige Unſchuld der Proto-
plaſten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von
ihnen gebotenen Schilderungen des Urſtandes.2) — Der ſpäteren
kirchlichen Orthodoxie kam dieſe einfachere und naturgemäßere Be-
trachtungsweiſe, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt,
mehr und mehr abhanden; und ſolche Verſuche zur Milderung des
widernatürlich Ueberſpannten der ſcholaſtiſchen Lehren über Adams
unbegrenztes Wiſſen, wie beiſpielsweiſe Toſtatus und Cajetan ſie
wagten, halfen dem Uebelſtande in Wirklichkeit nicht ab, dienten
vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der
nüchternen Schriftgrundlage um ſo anſchaulicher zu zeigen. — Erſt
in der reformatoriſchen Theologie fand hie und da Rückkehr zu
dieſem Grunde ſtatt und wurde demgemäß der Unterſchied zwiſchen
paradieſiſcher Unſchuld oder urſprünglicher Gerechtigkeit einerſeits,
ſowie zwiſchen phyſiſcher und intellectueller Vollkommenheit des im
Urſtande befindlichen Menſchen andrerſeits, wieder ſchärfer wahr-

1) Juvencus, Genes. v. 70: „Nec minus interea coecos nox alta
tenebat‟ etc.
2) Siehe in Betreff dieſer altkirchlichen Geneſisdichter m. Geſch. der Bezie-
hungen ꝛc. I, 257—265.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0052" n="42"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Ur&#x017F;tand nach kirchlicher Ueberlieferung.</fw><lb/>
Augen.<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Juvencus,</hi><hi rendition="#aq">Genes. v. 70: &#x201E;Nec minus interea coecos nox alta<lb/>
tenebat&#x201F; etc.</hi></note> Minder &#x017F;tark zu heidni&#x017F;chartigen Vor&#x017F;tellungen hinneigend,<lb/>
aber immerhin doch auch der &#x017F;päteren Ueber&#x017F;pannung der intellec-<lb/>
tuellen Vollkommenheit des Ur&#x017F;tands noch fern bleibend, er&#x017F;cheint<lb/>
die Gene&#x017F;isdichtung eines jüngeren Hilarius oder P&#x017F;eudo-Hilarius<lb/>
(5. Jahrh.) in ihren ent&#x017F;prechenden Partieen. &#x201E;O du &#x017F;eliges <hi rendition="#g">Thier</hi><lb/>
(<hi rendition="#aq">animal</hi>), deß Vater die Rechte des Höch&#x017F;ten i&#x017F;t&#x201F; &#xA75B;c., wird da&#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der neuge&#x017F;chaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be-<lb/>
harrens ohne Sünde verheißen, daß er &#x201E;göttlichen We&#x017F;ens&#x201F; (<hi rendition="#aq">numen</hi>)<lb/>
werden &#x017F;olle. Cl. Marius Victor von Ma&#x017F;&#x017F;ilia (&#x2020; um 450) redet<lb/>
allerdings in etwas &#x017F;tärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der<lb/>
be&#x017F;eligenden Gottesgeheimni&#x017F;&#x017F;e, wozu die Men&#x017F;chen im Un&#x017F;chulds-<lb/>
&#x017F;tande des Paradie&#x017F;es befähigt gewe&#x017F;en &#x017F;eien; aber noch zwei um<lb/>
mehrere Jahrzehnte jüngere Gene&#x017F;isdichter: Dracontius (um 490)<lb/>
und Avitus um (500) heben lediglich die &#x017F;elige Un&#x017F;chuld der Proto-<lb/>
pla&#x017F;ten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von<lb/>
ihnen gebotenen Schilderungen des Ur&#x017F;tandes.<note place="foot" n="2)">Siehe in Betreff die&#x017F;er altkirchlichen Gene&#x017F;isdichter m. Ge&#x017F;ch. der Bezie-<lb/>
hungen &#xA75B;c. <hi rendition="#aq">I,</hi> 257&#x2014;265.</note> &#x2014; Der &#x017F;päteren<lb/>
kirchlichen Orthodoxie kam die&#x017F;e einfachere und naturgemäßere Be-<lb/>
trachtungswei&#x017F;e, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt,<lb/>
mehr und mehr abhanden; und &#x017F;olche Ver&#x017F;uche zur Milderung des<lb/>
widernatürlich Ueber&#x017F;pannten der &#x017F;chola&#x017F;ti&#x017F;chen Lehren über Adams<lb/>
unbegrenztes Wi&#x017F;&#x017F;en, wie bei&#x017F;pielswei&#x017F;e To&#x017F;tatus und Cajetan &#x017F;ie<lb/>
wagten, halfen dem Uebel&#x017F;tande in Wirklichkeit nicht ab, dienten<lb/>
vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der<lb/>
nüchternen Schriftgrundlage um &#x017F;o an&#x017F;chaulicher zu zeigen. &#x2014; Er&#x017F;t<lb/>
in der reformatori&#x017F;chen Theologie fand hie und da Rückkehr zu<lb/>
die&#x017F;em Grunde &#x017F;tatt und wurde demgemäß der Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen<lb/>
paradie&#x017F;i&#x017F;cher Un&#x017F;chuld oder ur&#x017F;prünglicher Gerechtigkeit einer&#x017F;eits,<lb/>
&#x017F;owie zwi&#x017F;chen phy&#x017F;i&#x017F;cher und intellectueller Vollkommenheit des im<lb/>
Ur&#x017F;tande befindlichen Men&#x017F;chen andrer&#x017F;eits, wieder &#x017F;chärfer wahr-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0052] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. Augen. 1) Minder ſtark zu heidniſchartigen Vorſtellungen hinneigend, aber immerhin doch auch der ſpäteren Ueberſpannung der intellec- tuellen Vollkommenheit des Urſtands noch fern bleibend, erſcheint die Geneſisdichtung eines jüngeren Hilarius oder Pſeudo-Hilarius (5. Jahrh.) in ihren entſprechenden Partieen. „O du ſeliges Thier (animal), deß Vater die Rechte des Höchſten iſt‟ ꝛc., wird daſelbſt der neugeſchaffne Adam angeredet und ihm für den Fall des Be- harrens ohne Sünde verheißen, daß er „göttlichen Weſens‟ (numen) werden ſolle. Cl. Marius Victor von Maſſilia († um 450) redet allerdings in etwas ſtärkeren Ausdrücken von der Betrachtung der beſeligenden Gottesgeheimniſſe, wozu die Menſchen im Unſchulds- ſtande des Paradieſes befähigt geweſen ſeien; aber noch zwei um mehrere Jahrzehnte jüngere Geneſisdichter: Dracontius (um 490) und Avitus um (500) heben lediglich die ſelige Unſchuld der Proto- plaſten hervor; die intellectuelle Vorzüglichkeit fehlt in den von ihnen gebotenen Schilderungen des Urſtandes. 2) — Der ſpäteren kirchlichen Orthodoxie kam dieſe einfachere und naturgemäßere Be- trachtungsweiſe, wie aus dem früher von uns Mitgetheilten erhellt, mehr und mehr abhanden; und ſolche Verſuche zur Milderung des widernatürlich Ueberſpannten der ſcholaſtiſchen Lehren über Adams unbegrenztes Wiſſen, wie beiſpielsweiſe Toſtatus und Cajetan ſie wagten, halfen dem Uebelſtande in Wirklichkeit nicht ab, dienten vielmehr nur dazu, die Größe der eingetretenen Abirrungen von der nüchternen Schriftgrundlage um ſo anſchaulicher zu zeigen. — Erſt in der reformatoriſchen Theologie fand hie und da Rückkehr zu dieſem Grunde ſtatt und wurde demgemäß der Unterſchied zwiſchen paradieſiſcher Unſchuld oder urſprünglicher Gerechtigkeit einerſeits, ſowie zwiſchen phyſiſcher und intellectueller Vollkommenheit des im Urſtande befindlichen Menſchen andrerſeits, wieder ſchärfer wahr- 1) Juvencus, Genes. v. 70: „Nec minus interea coecos nox alta tenebat‟ etc. 2) Siehe in Betreff dieſer altkirchlichen Geneſisdichter m. Geſch. der Bezie- hungen ꝛc. I, 257—265.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/52
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/52>, abgerufen am 22.11.2024.