Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

IX. Das Alter des Menschengeschlechts.
schwarze Steinkohle verwandelte: deßgleichen die ähnlichen Resultate,
welche Daubree in Plombieres mittelst Versuchen zur Anthracit-
bildung u. dgl. m. erreichte, zeigen unwiderleglich, daß die klimatischen
Naturbedingungen der Jetztzeit keinerlei Maaßstab für Vorgänge
der Urzeit wie die in Rede stehenden abgeben können. Mit den
eigentlichen Erosions- oder Wasserniederschlags-Processen verhält es
sich ähnlich. Weder an Meeres-noch an Binnensee-Küsten findet
ein ungestört regelmäßig Steigen oder Fallen des Wasserspiegels statt.
Die Spiegel des Kaspi-Sees zeigt gewöhnlich ein durchschnittliches
Steigen und Fallen von etwa 2 Fuß innerhalb Eines Jahres, stieg
jedoch vor 12 Jahren (1867) ausnahmsweise um 11/2 Fuß höher.
Stärker noch schwankt der Höhen- und Tiefenstand des Aral-Sees.
Wie es sich auch mit der bekannten Annahme eines einstigen Ein-
strömens des Oxusflusses nicht in diesen letzteren, sondern in den
Kaspischen See verhalten, ob sie gegründet sein mag, oder nicht:
auf jeden Fall zeigen die Mündungsregionen großer Ströme in
allen Welttheilen eine Neigung zu oft sehr beträchtlichen Verände-
rungen ihrer Gestalt und Lage. Der Hoangho hat chinesischen Be-
richten zufolge seinen unteren Lauf während der letzten 1200 Jahre
bereits neunmal dergestalt geändert, daß die Mündung um mehrere
Breitegrade bald nördlicher bald südlicher lag. Von der Wolga
sowohl wie von der Weichsel, dem Po und andren in ihrem Unter-
laufe durch sehr flache Gegenden strömenden Flüssen ist Aehnliches
bekannt. Die auf die Schlamm- und Sand-Ablagerungen an den
Deltas der Flüsse gegründeten Versuche zu Altersberechnungen sind
durchweg ganz unzuverlässiger Art. Was während mehrerer Jahr-
hunderte durch langsame und stetige Anschwemmung geworden, kann
durch einen Sturm oder eine Springfluth während einer einzigen
Nacht zerstört werden, so daß alle nach uniformitarischem Princip
an jene gewöhnlichen Veränderungen geknüpften Berechnungen, sobald
sie auf Perioden von größerer Länge erstreckt werden, nothwendig
illusorischen Charakter annehmen. Jm unteren Aegypten "kann der
Fellah, der einen Damm um das Unterende seines Feldes zieht, in

IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.
ſchwarze Steinkohle verwandelte: deßgleichen die ähnlichen Reſultate,
welche Daubrée in Plombières mittelſt Verſuchen zur Anthracit-
bildung u. dgl. m. erreichte, zeigen unwiderleglich, daß die klimatiſchen
Naturbedingungen der Jetztzeit keinerlei Maaßſtab für Vorgänge
der Urzeit wie die in Rede ſtehenden abgeben können. Mit den
eigentlichen Eroſions- oder Waſſerniederſchlags-Proceſſen verhält es
ſich ähnlich. Weder an Meeres-noch an Binnenſee-Küſten findet
ein ungeſtört regelmäßig Steigen oder Fallen des Waſſerſpiegels ſtatt.
Die Spiegel des Kaspi-Sees zeigt gewöhnlich ein durchſchnittliches
Steigen und Fallen von etwa 2 Fuß innerhalb Eines Jahres, ſtieg
jedoch vor 12 Jahren (1867) ausnahmsweiſe um 1½ Fuß höher.
Stärker noch ſchwankt der Höhen- und Tiefenſtand des Aral-Sees.
Wie es ſich auch mit der bekannten Annahme eines einſtigen Ein-
ſtrömens des Oxusfluſſes nicht in dieſen letzteren, ſondern in den
Kaspiſchen See verhalten, ob ſie gegründet ſein mag, oder nicht:
auf jeden Fall zeigen die Mündungsregionen großer Ströme in
allen Welttheilen eine Neigung zu oft ſehr beträchtlichen Verände-
rungen ihrer Geſtalt und Lage. Der Hoangho hat chineſiſchen Be-
richten zufolge ſeinen unteren Lauf während der letzten 1200 Jahre
bereits neunmal dergeſtalt geändert, daß die Mündung um mehrere
Breitegrade bald nördlicher bald ſüdlicher lag. Von der Wolga
ſowohl wie von der Weichſel, dem Po und andren in ihrem Unter-
laufe durch ſehr flache Gegenden ſtrömenden Flüſſen iſt Aehnliches
bekannt. Die auf die Schlamm- und Sand-Ablagerungen an den
Deltas der Flüſſe gegründeten Verſuche zu Altersberechnungen ſind
durchweg ganz unzuverläſſiger Art. Was während mehrerer Jahr-
hunderte durch langſame und ſtetige Anſchwemmung geworden, kann
durch einen Sturm oder eine Springfluth während einer einzigen
Nacht zerſtört werden, ſo daß alle nach uniformitariſchem Princip
an jene gewöhnlichen Veränderungen geknüpften Berechnungen, ſobald
ſie auf Perioden von größerer Länge erſtreckt werden, nothwendig
illuſoriſchen Charakter annehmen. Jm unteren Aegypten „kann der
Fellah, der einen Damm um das Unterende ſeines Feldes zieht, in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0316" n="306"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Das Alter des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts.</fw><lb/>
&#x017F;chwarze Steinkohle verwandelte: deßgleichen die ähnlichen Re&#x017F;ultate,<lb/>
welche Daubr<hi rendition="#aq">é</hi>e in Plombi<hi rendition="#aq">è</hi>res mittel&#x017F;t Ver&#x017F;uchen zur Anthracit-<lb/>
bildung u. dgl. m. erreichte, zeigen unwiderleglich, daß die klimati&#x017F;chen<lb/>
Naturbedingungen der Jetztzeit keinerlei Maaß&#x017F;tab für Vorgänge<lb/>
der Urzeit wie die in Rede &#x017F;tehenden abgeben können. Mit den<lb/>
eigentlichen Ero&#x017F;ions- oder Wa&#x017F;&#x017F;ernieder&#x017F;chlags-Proce&#x017F;&#x017F;en verhält es<lb/>
&#x017F;ich ähnlich. Weder an Meeres-noch an Binnen&#x017F;ee-Kü&#x017F;ten findet<lb/>
ein unge&#x017F;tört regelmäßig Steigen oder Fallen des Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;piegels &#x017F;tatt.<lb/>
Die Spiegel des Kaspi-Sees zeigt gewöhnlich ein durch&#x017F;chnittliches<lb/>
Steigen und Fallen von etwa 2 Fuß innerhalb Eines Jahres, &#x017F;tieg<lb/>
jedoch vor 12 Jahren (1867) ausnahmswei&#x017F;e um 1½ Fuß höher.<lb/>
Stärker noch &#x017F;chwankt der Höhen- und Tiefen&#x017F;tand des Aral-Sees.<lb/>
Wie es &#x017F;ich auch mit der bekannten Annahme eines ein&#x017F;tigen Ein-<lb/>
&#x017F;trömens des Oxusflu&#x017F;&#x017F;es nicht in die&#x017F;en letzteren, &#x017F;ondern in den<lb/>
Kaspi&#x017F;chen See verhalten, ob &#x017F;ie gegründet &#x017F;ein mag, oder nicht:<lb/>
auf jeden Fall zeigen die Mündungsregionen großer Ströme in<lb/>
allen Welttheilen eine Neigung zu oft &#x017F;ehr beträchtlichen Verände-<lb/>
rungen ihrer Ge&#x017F;talt und Lage. Der Hoangho hat chine&#x017F;i&#x017F;chen Be-<lb/>
richten zufolge &#x017F;einen unteren Lauf während der letzten 1200 Jahre<lb/>
bereits neunmal derge&#x017F;talt geändert, daß die Mündung um mehrere<lb/>
Breitegrade bald nördlicher bald &#x017F;üdlicher lag. Von der Wolga<lb/>
&#x017F;owohl wie von der Weich&#x017F;el, dem Po und andren in ihrem Unter-<lb/>
laufe durch &#x017F;ehr flache Gegenden &#x017F;trömenden Flü&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t Aehnliches<lb/>
bekannt. Die auf die Schlamm- und Sand-Ablagerungen an den<lb/>
Deltas der Flü&#x017F;&#x017F;e gegründeten Ver&#x017F;uche zu Altersberechnungen &#x017F;ind<lb/>
durchweg ganz unzuverlä&#x017F;&#x017F;iger Art. Was während mehrerer Jahr-<lb/>
hunderte durch lang&#x017F;ame und &#x017F;tetige An&#x017F;chwemmung geworden, kann<lb/>
durch einen Sturm oder eine Springfluth während einer einzigen<lb/>
Nacht zer&#x017F;tört werden, &#x017F;o daß alle nach uniformitari&#x017F;chem Princip<lb/>
an jene gewöhnlichen Veränderungen geknüpften Berechnungen, &#x017F;obald<lb/>
&#x017F;ie auf Perioden von größerer Länge er&#x017F;treckt werden, nothwendig<lb/>
illu&#x017F;ori&#x017F;chen Charakter annehmen. Jm unteren Aegypten &#x201E;kann der<lb/>
Fellah, der einen Damm um das Unterende &#x017F;eines Feldes zieht, in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[306/0316] IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts. ſchwarze Steinkohle verwandelte: deßgleichen die ähnlichen Reſultate, welche Daubrée in Plombières mittelſt Verſuchen zur Anthracit- bildung u. dgl. m. erreichte, zeigen unwiderleglich, daß die klimatiſchen Naturbedingungen der Jetztzeit keinerlei Maaßſtab für Vorgänge der Urzeit wie die in Rede ſtehenden abgeben können. Mit den eigentlichen Eroſions- oder Waſſerniederſchlags-Proceſſen verhält es ſich ähnlich. Weder an Meeres-noch an Binnenſee-Küſten findet ein ungeſtört regelmäßig Steigen oder Fallen des Waſſerſpiegels ſtatt. Die Spiegel des Kaspi-Sees zeigt gewöhnlich ein durchſchnittliches Steigen und Fallen von etwa 2 Fuß innerhalb Eines Jahres, ſtieg jedoch vor 12 Jahren (1867) ausnahmsweiſe um 1½ Fuß höher. Stärker noch ſchwankt der Höhen- und Tiefenſtand des Aral-Sees. Wie es ſich auch mit der bekannten Annahme eines einſtigen Ein- ſtrömens des Oxusfluſſes nicht in dieſen letzteren, ſondern in den Kaspiſchen See verhalten, ob ſie gegründet ſein mag, oder nicht: auf jeden Fall zeigen die Mündungsregionen großer Ströme in allen Welttheilen eine Neigung zu oft ſehr beträchtlichen Verände- rungen ihrer Geſtalt und Lage. Der Hoangho hat chineſiſchen Be- richten zufolge ſeinen unteren Lauf während der letzten 1200 Jahre bereits neunmal dergeſtalt geändert, daß die Mündung um mehrere Breitegrade bald nördlicher bald ſüdlicher lag. Von der Wolga ſowohl wie von der Weichſel, dem Po und andren in ihrem Unter- laufe durch ſehr flache Gegenden ſtrömenden Flüſſen iſt Aehnliches bekannt. Die auf die Schlamm- und Sand-Ablagerungen an den Deltas der Flüſſe gegründeten Verſuche zu Altersberechnungen ſind durchweg ganz unzuverläſſiger Art. Was während mehrerer Jahr- hunderte durch langſame und ſtetige Anſchwemmung geworden, kann durch einen Sturm oder eine Springfluth während einer einzigen Nacht zerſtört werden, ſo daß alle nach uniformitariſchem Princip an jene gewöhnlichen Veränderungen geknüpften Berechnungen, ſobald ſie auf Perioden von größerer Länge erſtreckt werden, nothwendig illuſoriſchen Charakter annehmen. Jm unteren Aegypten „kann der Fellah, der einen Damm um das Unterende ſeines Feldes zieht, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/316
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/316>, abgerufen am 03.05.2024.