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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
Zeit der Entstehung dieser Monumente ist eine sehr ungewisse, theil-
weise auf jeden Fall ziemlich junge; über ihre culturgeschichtliche
oder auch religiöse Bedeutung können sehr verschiedne Ansichten unter-
halten werden; bei ihrer Wertschätzung in technischer und künstlerischer
Hinsicht kann man leicht das Erforderniß gehöriger Nüchternheit ver-
absäumen und in allerhand Ueberschwenglichkeiten verfallen.1) Wir
verzichten daher auf Verwerthung auch dieser culturgeschichtlichen
Thatsachen für unsre These, und zwar dieß um so lieber, da sofern
es sich überhaupt um gesicherte Belege für die Thatsache eines Herab-
sinkens der Menschheit handelt, diese in Gestalt unmittelbar beobacht-
barer und lebendiger Zeugnisse in reicher Fülle gewonnen werden
können.

Es gibt lebende Degradationsproducte der Menschheit, die
viel beredter und kräftiger als jene monumentalen für die Thatsache
zeugen, daß es eine absteigende Culturbewegung unsres Geschlechts
gegeben hat und noch gibt. Wir meinen jene in Wüsten, unwirth-
bare circumpolare Zonen oder auf ferne und öde Klippeninseln
des Oceans verscheuchten Auswürflinge des Völkerlebens,
deren einige schon der Herzog von Argyll den Lubbockschen Urwildheits-
phantasien als treffende Gegenbelege entgegenhielt und deren dann
Tylor eine beträchtlich größere Zahl zusammenstellte. Das Register
dieser degradirten Stämme an den Grenzen des civilisirten Völker-
lebens empfängt noch von Jahr zu Jahr theils absolute Ver-
mehrungen seines Repertoirs, theils Bestätigungen hinsichtlich der
früher in es eingetragenen Beispiele. Daß die grönländischen Eskimo
ganz richtig und treffend von Argyll gegenüber Lubbock beurtheilt
worden waren, haben die auf ihren ziemlich reichen Sagenschatz be-

an die biolog. Section der Brit. Association zu Glasgow, 1876) Gewicht ge-
legt worden. Vgl. auch den amerikan. Archäologen J. D. Baldwin, in s.
Notes on American Archeology, Newyork 1872.
1) Wie dieß namentlich dem schottischen Pyramidenforscher Piazzi Smyth
(The antiquity of intell. man u. aa. Schriften) begegnet ist, unter theilweiser
Zustimmung von Wallace, l. c.
14*

VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
Zeit der Entſtehung dieſer Monumente iſt eine ſehr ungewiſſe, theil-
weiſe auf jeden Fall ziemlich junge; über ihre culturgeſchichtliche
oder auch religiöſe Bedeutung können ſehr verſchiedne Anſichten unter-
halten werden; bei ihrer Wertſchätzung in techniſcher und künſtleriſcher
Hinſicht kann man leicht das Erforderniß gehöriger Nüchternheit ver-
abſäumen und in allerhand Ueberſchwenglichkeiten verfallen.1) Wir
verzichten daher auf Verwerthung auch dieſer culturgeſchichtlichen
Thatſachen für unſre Theſe, und zwar dieß um ſo lieber, da ſofern
es ſich überhaupt um geſicherte Belege für die Thatſache eines Herab-
ſinkens der Menſchheit handelt, dieſe in Geſtalt unmittelbar beobacht-
barer und lebendiger Zeugniſſe in reicher Fülle gewonnen werden
können.

Es gibt lebende Degradationsproducte der Menſchheit, die
viel beredter und kräftiger als jene monumentalen für die Thatſache
zeugen, daß es eine abſteigende Culturbewegung unſres Geſchlechts
gegeben hat und noch gibt. Wir meinen jene in Wüſten, unwirth-
bare circumpolare Zonen oder auf ferne und öde Klippeninſeln
des Oceans verſcheuchten Auswürflinge des Völkerlebens,
deren einige ſchon der Herzog von Argyll den Lubbockſchen Urwildheits-
phantaſien als treffende Gegenbelege entgegenhielt und deren dann
Tylor eine beträchtlich größere Zahl zuſammenſtellte. Das Regiſter
dieſer degradirten Stämme an den Grenzen des civiliſirten Völker-
lebens empfängt noch von Jahr zu Jahr theils abſolute Ver-
mehrungen ſeines Repertoirs, theils Beſtätigungen hinſichtlich der
früher in es eingetragenen Beiſpiele. Daß die grönländiſchen Eskimo
ganz richtig und treffend von Argyll gegenüber Lubbock beurtheilt
worden waren, haben die auf ihren ziemlich reichen Sagenſchatz be-

an die biolog. Section der Brit. Association zu Glasgow, 1876) Gewicht ge-
legt worden. Vgl. auch den amerikan. Archäologen J. D. Baldwin, in ſ.
Notes on American Archeology, Newyork 1872.
1) Wie dieß namentlich dem ſchottiſchen Pyramidenforſcher Piazzi Smyth
(The antiquity of intell. man u. aa. Schriften) begegnet iſt, unter theilweiſer
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[211/0221] VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. Zeit der Entſtehung dieſer Monumente iſt eine ſehr ungewiſſe, theil- weiſe auf jeden Fall ziemlich junge; über ihre culturgeſchichtliche oder auch religiöſe Bedeutung können ſehr verſchiedne Anſichten unter- halten werden; bei ihrer Wertſchätzung in techniſcher und künſtleriſcher Hinſicht kann man leicht das Erforderniß gehöriger Nüchternheit ver- abſäumen und in allerhand Ueberſchwenglichkeiten verfallen. 1) Wir verzichten daher auf Verwerthung auch dieſer culturgeſchichtlichen Thatſachen für unſre Theſe, und zwar dieß um ſo lieber, da ſofern es ſich überhaupt um geſicherte Belege für die Thatſache eines Herab- ſinkens der Menſchheit handelt, dieſe in Geſtalt unmittelbar beobacht- barer und lebendiger Zeugniſſe in reicher Fülle gewonnen werden können. Es gibt lebende Degradationsproducte der Menſchheit, die viel beredter und kräftiger als jene monumentalen für die Thatſache zeugen, daß es eine abſteigende Culturbewegung unſres Geſchlechts gegeben hat und noch gibt. Wir meinen jene in Wüſten, unwirth- bare circumpolare Zonen oder auf ferne und öde Klippeninſeln des Oceans verſcheuchten Auswürflinge des Völkerlebens, deren einige ſchon der Herzog von Argyll den Lubbockſchen Urwildheits- phantaſien als treffende Gegenbelege entgegenhielt und deren dann Tylor eine beträchtlich größere Zahl zuſammenſtellte. Das Regiſter dieſer degradirten Stämme an den Grenzen des civiliſirten Völker- lebens empfängt noch von Jahr zu Jahr theils abſolute Ver- mehrungen ſeines Repertoirs, theils Beſtätigungen hinſichtlich der früher in es eingetragenen Beiſpiele. Daß die grönländiſchen Eskimo ganz richtig und treffend von Argyll gegenüber Lubbock beurtheilt worden waren, haben die auf ihren ziemlich reichen Sagenſchatz be- 2) 1) Wie dieß namentlich dem ſchottiſchen Pyramidenforſcher Piazzi Smyth (The antiquity of intell. man u. aa. Schriften) begegnet iſt, unter theilweiſer Zuſtimmung von Wallace, l. c. 2) an die biolog. Section der Brit. Association zu Glasgow, 1876) Gewicht ge- legt worden. Vgl. auch den amerikan. Archäologen J. D. Baldwin, in ſ. Notes on American Archeology, Newyork 1872. 14*

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/221>, abgerufen am 24.11.2024.