Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Die Opposition des modernen Naturalismus.
gleicht der durch seine philosophischen Jdeen stark beeinflußte Schiller,
was die Auffassung der Uranfänge menschlicher Natur- und Geistes-
entwicklung betrifft, dem revolutionären Philosophen von Genf in
ziemlichem Grade, während gleichzeitig Fichtes und Hegels Theorie
vom Sündenfalle als einem wesentlichen Fortschritte der menschlichen
Vernunftentwicklung bei ihm keimt. 1) Den Maaßstab für die frühe-
sten, vorgeschichtlichen Zustände des Menschengeschlechts glaubt er
der Beschaffenheit jener wildesten Völkerschaften, die man auf ent-
legenen Küsten und Jnseln entdeckt hat, entlehnen zu dürfen; aus
diesem Spiegel wähnt er "den verlorenen Anfang unsres Geschlechts
wiederherstellen" zu können. "Wie beschämend und traurig", ruft
er, "ist das Bild, das uns diese Völker von unsrer Kindheit geben!
und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie
erblicken. Der Mensch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene
doch schon als Völker, als politische Körper, aber der Mensch mußte
sich erst durch außerordentliche Anstrengung zur politischen Gesell-
schaft erheben. 2) Jn seiner Vorlesung "Ueber die erste Menschen-
gesellschaft" hat Schiller -- nicht ohne eine gewisse Anlehnung an
die mosaische Urkunde, aber im Ganzen sich doch wenig an dieselbe
bindend -- die frühesten Anfänge der menschlichen Cultur, anhebend
mit jener Zeit, wo "die erste Mutter ihre nothwendigste Mutter-
pflicht von den Thieren erlernte", zu schildern versucht. An dem-
selben "Leitbande des Jnstincts", woran noch jetzt das vernunftlose
Thier von der Vorsehung gehalten wird, sei da der Mensch geleitet
worden. Ein Zeitalter wollüstig schlaffer Kindheit, in stetem
Wechsel zwischen Genuß und Ruhe, verlebte er da. Er mußte aus
dieser Winterzeit heraustreten, sollte er anders mündig werden,
mußte aus einer bloßen "Creatur des Jnstincts" mit pflanzenartigem
Dasein ein freier, vernünftiger Geist werden. Sein sogen. Sünden-
fall, als Abfall vom Jnstincte, war demnach "ohne Widerspruch

1) Vgl. das oben, Nr. I z. Ende über Fichte Bemerkte.
2) Was heißt und wozu studirt man Universalgeschichte? (Akad. Antritts-
rede, 1789).

IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
gleicht der durch ſeine philoſophiſchen Jdeen ſtark beeinflußte Schiller,
was die Auffaſſung der Uranfänge menſchlicher Natur- und Geiſtes-
entwicklung betrifft, dem revolutionären Philoſophen von Genf in
ziemlichem Grade, während gleichzeitig Fichtes und Hegels Theorie
vom Sündenfalle als einem weſentlichen Fortſchritte der menſchlichen
Vernunftentwicklung bei ihm keimt. 1) Den Maaßſtab für die frühe-
ſten, vorgeſchichtlichen Zuſtände des Menſchengeſchlechts glaubt er
der Beſchaffenheit jener wildeſten Völkerſchaften, die man auf ent-
legenen Küſten und Jnſeln entdeckt hat, entlehnen zu dürfen; aus
dieſem Spiegel wähnt er „den verlorenen Anfang unſres Geſchlechts
wiederherſtellen‟ zu können. „Wie beſchämend und traurig‟, ruft
er, „iſt das Bild, das uns dieſe Völker von unſrer Kindheit geben!
und doch iſt es nicht einmal die erſte Stufe mehr, auf der wir ſie
erblicken. Der Menſch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene
doch ſchon als Völker, als politiſche Körper, aber der Menſch mußte
ſich erſt durch außerordentliche Anſtrengung zur politiſchen Geſell-
ſchaft erheben. 2) Jn ſeiner Vorleſung „Ueber die erſte Menſchen-
geſellſchaft‟ hat Schiller — nicht ohne eine gewiſſe Anlehnung an
die moſaiſche Urkunde, aber im Ganzen ſich doch wenig an dieſelbe
bindend — die früheſten Anfänge der menſchlichen Cultur, anhebend
mit jener Zeit, wo „die erſte Mutter ihre nothwendigſte Mutter-
pflicht von den Thieren erlernte‟, zu ſchildern verſucht. An dem-
ſelben „Leitbande des Jnſtincts‟, woran noch jetzt das vernunftloſe
Thier von der Vorſehung gehalten wird, ſei da der Menſch geleitet
worden. Ein Zeitalter wollüſtig ſchlaffer Kindheit, in ſtetem
Wechſel zwiſchen Genuß und Ruhe, verlebte er da. Er mußte aus
dieſer Winterzeit heraustreten, ſollte er anders mündig werden,
mußte aus einer bloßen „Creatur des Jnſtincts‟ mit pflanzenartigem
Daſein ein freier, vernünftiger Geiſt werden. Sein ſogen. Sünden-
fall, als Abfall vom Jnſtincte, war demnach „ohne Widerſpruch

1) Vgl. das oben, Nr. I z. Ende über Fichte Bemerkte.
2) Was heißt und wozu ſtudirt man Univerſalgeſchichte? (Akad. Antritts-
rede, 1789).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0130" n="120"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Oppo&#x017F;ition des modernen Naturalismus.</fw><lb/>
gleicht der durch &#x017F;eine philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Jdeen &#x017F;tark beeinflußte <hi rendition="#g">Schiller,</hi><lb/>
was die Auffa&#x017F;&#x017F;ung der Uranfänge men&#x017F;chlicher Natur- und Gei&#x017F;tes-<lb/>
entwicklung betrifft, dem revolutionären Philo&#x017F;ophen von Genf in<lb/>
ziemlichem Grade, während gleichzeitig Fichtes und Hegels Theorie<lb/>
vom Sündenfalle als einem we&#x017F;entlichen Fort&#x017F;chritte der men&#x017F;chlichen<lb/>
Vernunftentwicklung bei ihm keimt. <note place="foot" n="1)">Vgl. das oben, Nr. <hi rendition="#aq">I</hi> z. Ende über Fichte Bemerkte.</note> Den Maaß&#x017F;tab für die frühe-<lb/>
&#x017F;ten, vorge&#x017F;chichtlichen Zu&#x017F;tände des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts glaubt er<lb/>
der Be&#x017F;chaffenheit jener wilde&#x017F;ten Völker&#x017F;chaften, die man auf ent-<lb/>
legenen Kü&#x017F;ten und Jn&#x017F;eln entdeckt hat, entlehnen zu dürfen; aus<lb/>
die&#x017F;em Spiegel wähnt er &#x201E;den verlorenen Anfang un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts<lb/>
wiederher&#x017F;tellen&#x201F; zu können. &#x201E;Wie be&#x017F;chämend und traurig&#x201F;, ruft<lb/>
er, &#x201E;i&#x017F;t das Bild, das uns die&#x017F;e Völker von un&#x017F;rer Kindheit geben!<lb/>
und doch i&#x017F;t es nicht einmal die er&#x017F;te Stufe mehr, auf der wir &#x017F;ie<lb/>
erblicken. Der Men&#x017F;ch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene<lb/>
doch &#x017F;chon als Völker, als politi&#x017F;che Körper, aber der Men&#x017F;ch mußte<lb/>
&#x017F;ich er&#x017F;t durch außerordentliche An&#x017F;trengung zur politi&#x017F;chen Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft erheben. <note place="foot" n="2)">Was heißt und wozu &#x017F;tudirt man Univer&#x017F;alge&#x017F;chichte? (Akad. Antritts-<lb/>
rede, 1789).</note> Jn &#x017F;einer Vorle&#x017F;ung &#x201E;Ueber die er&#x017F;te Men&#x017F;chen-<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaft&#x201F; hat Schiller &#x2014; nicht ohne eine gewi&#x017F;&#x017F;e Anlehnung an<lb/>
die mo&#x017F;ai&#x017F;che Urkunde, aber im Ganzen &#x017F;ich doch wenig an die&#x017F;elbe<lb/>
bindend &#x2014; die frühe&#x017F;ten Anfänge der men&#x017F;chlichen Cultur, anhebend<lb/>
mit jener Zeit, wo &#x201E;die er&#x017F;te Mutter ihre nothwendig&#x017F;te Mutter-<lb/>
pflicht von den Thieren erlernte&#x201F;, zu &#x017F;childern ver&#x017F;ucht. An dem-<lb/>
&#x017F;elben &#x201E;Leitbande des Jn&#x017F;tincts&#x201F;, woran noch jetzt das vernunftlo&#x017F;e<lb/>
Thier von der Vor&#x017F;ehung gehalten wird, &#x017F;ei da der Men&#x017F;ch geleitet<lb/>
worden. Ein Zeitalter wollü&#x017F;tig &#x017F;chlaffer Kindheit, in &#x017F;tetem<lb/>
Wech&#x017F;el zwi&#x017F;chen Genuß und Ruhe, verlebte er da. Er mußte aus<lb/>
die&#x017F;er Winterzeit heraustreten, &#x017F;ollte er anders mündig werden,<lb/>
mußte aus einer bloßen &#x201E;Creatur des Jn&#x017F;tincts&#x201F; mit pflanzenartigem<lb/>
Da&#x017F;ein ein freier, vernünftiger Gei&#x017F;t werden. Sein &#x017F;ogen. Sünden-<lb/>
fall, als Abfall vom Jn&#x017F;tincte, war demnach &#x201E;ohne Wider&#x017F;pruch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0130] IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. gleicht der durch ſeine philoſophiſchen Jdeen ſtark beeinflußte Schiller, was die Auffaſſung der Uranfänge menſchlicher Natur- und Geiſtes- entwicklung betrifft, dem revolutionären Philoſophen von Genf in ziemlichem Grade, während gleichzeitig Fichtes und Hegels Theorie vom Sündenfalle als einem weſentlichen Fortſchritte der menſchlichen Vernunftentwicklung bei ihm keimt. 1) Den Maaßſtab für die frühe- ſten, vorgeſchichtlichen Zuſtände des Menſchengeſchlechts glaubt er der Beſchaffenheit jener wildeſten Völkerſchaften, die man auf ent- legenen Küſten und Jnſeln entdeckt hat, entlehnen zu dürfen; aus dieſem Spiegel wähnt er „den verlorenen Anfang unſres Geſchlechts wiederherſtellen‟ zu können. „Wie beſchämend und traurig‟, ruft er, „iſt das Bild, das uns dieſe Völker von unſrer Kindheit geben! und doch iſt es nicht einmal die erſte Stufe mehr, auf der wir ſie erblicken. Der Menſch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene doch ſchon als Völker, als politiſche Körper, aber der Menſch mußte ſich erſt durch außerordentliche Anſtrengung zur politiſchen Geſell- ſchaft erheben. 2) Jn ſeiner Vorleſung „Ueber die erſte Menſchen- geſellſchaft‟ hat Schiller — nicht ohne eine gewiſſe Anlehnung an die moſaiſche Urkunde, aber im Ganzen ſich doch wenig an dieſelbe bindend — die früheſten Anfänge der menſchlichen Cultur, anhebend mit jener Zeit, wo „die erſte Mutter ihre nothwendigſte Mutter- pflicht von den Thieren erlernte‟, zu ſchildern verſucht. An dem- ſelben „Leitbande des Jnſtincts‟, woran noch jetzt das vernunftloſe Thier von der Vorſehung gehalten wird, ſei da der Menſch geleitet worden. Ein Zeitalter wollüſtig ſchlaffer Kindheit, in ſtetem Wechſel zwiſchen Genuß und Ruhe, verlebte er da. Er mußte aus dieſer Winterzeit heraustreten, ſollte er anders mündig werden, mußte aus einer bloßen „Creatur des Jnſtincts‟ mit pflanzenartigem Daſein ein freier, vernünftiger Geiſt werden. Sein ſogen. Sünden- fall, als Abfall vom Jnſtincte, war demnach „ohne Widerſpruch 1) Vgl. das oben, Nr. I z. Ende über Fichte Bemerkte. 2) Was heißt und wozu ſtudirt man Univerſalgeſchichte? (Akad. Antritts- rede, 1789).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/130
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/130>, abgerufen am 22.11.2024.