Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Die Traditionen des Heidenthums.
sten gekommen; die übrigen meist älteren Fassungen der Sage ver-
dienten keinen Glauben! -- Auf eine ernsthafte Widerlegung dieser
Annahme brauchen wir uns wohl nicht einzulassen. Es ist eben
Geschmackssache, ob man einer einzelnen Version des vielgestaltigen
Sagenkreises den Vorzug ertheilen, alle übrigen aber als unzurech-
nungsfähig bei Seite lassen will. Poetenwillkür ist es, welche dort
epikurisch-lukretianische Phantasien mit der älteren Grundgestalt der
Sage verschmilzt, und Philosophenwillkür ist es, welche hier einen
realen Kern der Urstandssagen zwar statuirt, ihm aber einen mo-
dernen Unterbau a la Darwin gibt.

Noch eine letzte Modification derjenigen neueren Theorien,
mittelst deren man das Gewicht der zahlreichen mythologischen Pa-
rallelen zur biblischen Urstandsgeschichte zu entkräften sucht, muß hier
erwähnt werden. Es ist die vornehme Betrachtungsweise einer ju-
gendlich kühn emporstehenden alttestamentlichen Kritikerschule, welche
das Gleichartige der biblischen Urstandssagen mit den außerbiblischen
einfach so erklärt, daß sie ein Eindringen dieser letzteren in die als
erst spät entstanden gedachten biblischen Quellen behauptet. "Die
biblischen Schriftsteller haben absichtlich die Ur- und Vorgeschichte
Jsraels so componirt, daß sie den Urtraditionen der übrigen orien-
talischen Nationen, so weit als der schriftstellerische Plan dieß zuließ,
conform gestaltet wurde. Die Harmonie der Sagen, um welche es
sich handelt, ist weder ein Werk des Zufalls, noch ein Produkt pro-
videntieller Veranstaltung oder ein Ergebniß göttlich geleiteter Ent-
wicklung der Völker aus Einem Urgrunde: sie ist ein Tendenz-
machwerk, absichtlich und überlegterweise herbeigeführt durch die
Redaktoren der pentateuchischen Urkunden". Man sieht, hier wird
jene oben zuerst betrachtete ältere Entlehnungshypothese umgekehrt
und auf den Kopf gestellt. Statt eines biblischen Ursprungs der
heidnischen Sagen, wird sozusagen ein heidnischer Ursprung der bib-
lischen behauptet. Dabei bringt es aber diese Betrachtungsweise
über eine gewisse Halbheit ihres Verfahrens doch nicht hinaus. Die
elohistischen Bestandtheile des Pentateuchs, also die Schöpfungs-

III. Die Traditionen des Heidenthums.
ſten gekommen; die übrigen meiſt älteren Faſſungen der Sage ver-
dienten keinen Glauben! — Auf eine ernſthafte Widerlegung dieſer
Annahme brauchen wir uns wohl nicht einzulaſſen. Es iſt eben
Geſchmacksſache, ob man einer einzelnen Verſion des vielgeſtaltigen
Sagenkreiſes den Vorzug ertheilen, alle übrigen aber als unzurech-
nungsfähig bei Seite laſſen will. Poëtenwillkür iſt es, welche dort
epikuriſch-lukretianiſche Phantaſien mit der älteren Grundgeſtalt der
Sage verſchmilzt, und Philoſophenwillkür iſt es, welche hier einen
realen Kern der Urſtandsſagen zwar ſtatuirt, ihm aber einen mo-
dernen Unterbau à la Darwin gibt.

Noch eine letzte Modification derjenigen neueren Theorien,
mittelſt deren man das Gewicht der zahlreichen mythologiſchen Pa-
rallelen zur bibliſchen Urſtandsgeſchichte zu entkräften ſucht, muß hier
erwähnt werden. Es iſt die vornehme Betrachtungsweiſe einer ju-
gendlich kühn emporſtehenden altteſtamentlichen Kritikerſchule, welche
das Gleichartige der bibliſchen Urſtandsſagen mit den außerbibliſchen
einfach ſo erklärt, daß ſie ein Eindringen dieſer letzteren in die als
erſt ſpät entſtanden gedachten bibliſchen Quellen behauptet. „Die
bibliſchen Schriftſteller haben abſichtlich die Ur- und Vorgeſchichte
Jsraels ſo componirt, daß ſie den Urtraditionen der übrigen orien-
taliſchen Nationen, ſo weit als der ſchriftſtelleriſche Plan dieß zuließ,
conform geſtaltet wurde. Die Harmonie der Sagen, um welche es
ſich handelt, iſt weder ein Werk des Zufalls, noch ein Produkt pro-
videntieller Veranſtaltung oder ein Ergebniß göttlich geleiteter Ent-
wicklung der Völker aus Einem Urgrunde: ſie iſt ein Tendenz-
machwerk, abſichtlich und überlegterweiſe herbeigeführt durch die
Redaktoren der pentateuchiſchen Urkunden‟. Man ſieht, hier wird
jene oben zuerſt betrachtete ältere Entlehnungshypotheſe umgekehrt
und auf den Kopf geſtellt. Statt eines bibliſchen Urſprungs der
heidniſchen Sagen, wird ſozuſagen ein heidniſcher Urſprung der bib-
liſchen behauptet. Dabei bringt es aber dieſe Betrachtungsweiſe
über eine gewiſſe Halbheit ihres Verfahrens doch nicht hinaus. Die
elohiſtiſchen Beſtandtheile des Pentateuchs, alſo die Schöpfungs-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0119" n="109"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Die Traditionen des Heidenthums.</fw><lb/>
&#x017F;ten gekommen; die übrigen mei&#x017F;t älteren Fa&#x017F;&#x017F;ungen der Sage ver-<lb/>
dienten keinen Glauben! &#x2014; Auf eine ern&#x017F;thafte Widerlegung die&#x017F;er<lb/>
Annahme brauchen wir uns wohl nicht einzula&#x017F;&#x017F;en. Es i&#x017F;t eben<lb/>
Ge&#x017F;chmacks&#x017F;ache, ob man einer einzelnen Ver&#x017F;ion des vielge&#x017F;taltigen<lb/>
Sagenkrei&#x017F;es den Vorzug ertheilen, alle übrigen aber als unzurech-<lb/>
nungsfähig bei Seite la&#x017F;&#x017F;en will. Po<hi rendition="#aq">ë</hi>tenwillkür i&#x017F;t es, welche dort<lb/>
epikuri&#x017F;ch-lukretiani&#x017F;che Phanta&#x017F;ien mit der älteren Grundge&#x017F;talt der<lb/>
Sage ver&#x017F;chmilzt, und Philo&#x017F;ophenwillkür i&#x017F;t es, welche hier einen<lb/>
realen Kern der Ur&#x017F;tands&#x017F;agen zwar &#x017F;tatuirt, ihm aber einen mo-<lb/>
dernen Unterbau <hi rendition="#aq">à la</hi> Darwin gibt.</p><lb/>
        <p>Noch eine letzte Modification derjenigen neueren Theorien,<lb/>
mittel&#x017F;t deren man das Gewicht der zahlreichen mythologi&#x017F;chen Pa-<lb/>
rallelen zur bibli&#x017F;chen Ur&#x017F;tandsge&#x017F;chichte zu entkräften &#x017F;ucht, muß hier<lb/>
erwähnt werden. Es i&#x017F;t die vornehme Betrachtungswei&#x017F;e einer ju-<lb/>
gendlich kühn empor&#x017F;tehenden altte&#x017F;tamentlichen Kritiker&#x017F;chule, welche<lb/>
das Gleichartige der bibli&#x017F;chen Ur&#x017F;tands&#x017F;agen mit den außerbibli&#x017F;chen<lb/>
einfach &#x017F;o erklärt, daß &#x017F;ie ein Eindringen die&#x017F;er letzteren in die als<lb/>
er&#x017F;t &#x017F;pät ent&#x017F;tanden gedachten bibli&#x017F;chen Quellen behauptet. &#x201E;Die<lb/>
bibli&#x017F;chen Schrift&#x017F;teller haben <hi rendition="#g">ab&#x017F;ichtlich</hi> die Ur- und Vorge&#x017F;chichte<lb/>
Jsraels &#x017F;o componirt, daß &#x017F;ie den Urtraditionen der übrigen orien-<lb/>
tali&#x017F;chen Nationen, &#x017F;o weit als der &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;che Plan dieß zuließ,<lb/>
conform ge&#x017F;taltet wurde. Die Harmonie der Sagen, um welche es<lb/>
&#x017F;ich handelt, i&#x017F;t weder ein Werk des Zufalls, noch ein Produkt pro-<lb/>
videntieller Veran&#x017F;taltung oder ein Ergebniß göttlich geleiteter Ent-<lb/>
wicklung der Völker aus Einem Urgrunde: &#x017F;ie i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">Tendenz-</hi><lb/>
machwerk, ab&#x017F;ichtlich und überlegterwei&#x017F;e herbeigeführt durch die<lb/>
Redaktoren der pentateuchi&#x017F;chen Urkunden&#x201F;. Man &#x017F;ieht, hier wird<lb/>
jene oben zuer&#x017F;t betrachtete ältere Entlehnungshypothe&#x017F;e umgekehrt<lb/>
und auf den Kopf ge&#x017F;tellt. Statt eines bibli&#x017F;chen Ur&#x017F;prungs der<lb/>
heidni&#x017F;chen Sagen, wird &#x017F;ozu&#x017F;agen ein heidni&#x017F;cher Ur&#x017F;prung der bib-<lb/>
li&#x017F;chen behauptet. Dabei bringt es aber die&#x017F;e Betrachtungswei&#x017F;e<lb/>
über eine gewi&#x017F;&#x017F;e Halbheit ihres Verfahrens doch nicht hinaus. Die<lb/>
elohi&#x017F;ti&#x017F;chen Be&#x017F;tandtheile des Pentateuchs, al&#x017F;o die Schöpfungs-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0119] III. Die Traditionen des Heidenthums. ſten gekommen; die übrigen meiſt älteren Faſſungen der Sage ver- dienten keinen Glauben! — Auf eine ernſthafte Widerlegung dieſer Annahme brauchen wir uns wohl nicht einzulaſſen. Es iſt eben Geſchmacksſache, ob man einer einzelnen Verſion des vielgeſtaltigen Sagenkreiſes den Vorzug ertheilen, alle übrigen aber als unzurech- nungsfähig bei Seite laſſen will. Poëtenwillkür iſt es, welche dort epikuriſch-lukretianiſche Phantaſien mit der älteren Grundgeſtalt der Sage verſchmilzt, und Philoſophenwillkür iſt es, welche hier einen realen Kern der Urſtandsſagen zwar ſtatuirt, ihm aber einen mo- dernen Unterbau à la Darwin gibt. Noch eine letzte Modification derjenigen neueren Theorien, mittelſt deren man das Gewicht der zahlreichen mythologiſchen Pa- rallelen zur bibliſchen Urſtandsgeſchichte zu entkräften ſucht, muß hier erwähnt werden. Es iſt die vornehme Betrachtungsweiſe einer ju- gendlich kühn emporſtehenden altteſtamentlichen Kritikerſchule, welche das Gleichartige der bibliſchen Urſtandsſagen mit den außerbibliſchen einfach ſo erklärt, daß ſie ein Eindringen dieſer letzteren in die als erſt ſpät entſtanden gedachten bibliſchen Quellen behauptet. „Die bibliſchen Schriftſteller haben abſichtlich die Ur- und Vorgeſchichte Jsraels ſo componirt, daß ſie den Urtraditionen der übrigen orien- taliſchen Nationen, ſo weit als der ſchriftſtelleriſche Plan dieß zuließ, conform geſtaltet wurde. Die Harmonie der Sagen, um welche es ſich handelt, iſt weder ein Werk des Zufalls, noch ein Produkt pro- videntieller Veranſtaltung oder ein Ergebniß göttlich geleiteter Ent- wicklung der Völker aus Einem Urgrunde: ſie iſt ein Tendenz- machwerk, abſichtlich und überlegterweiſe herbeigeführt durch die Redaktoren der pentateuchiſchen Urkunden‟. Man ſieht, hier wird jene oben zuerſt betrachtete ältere Entlehnungshypotheſe umgekehrt und auf den Kopf geſtellt. Statt eines bibliſchen Urſprungs der heidniſchen Sagen, wird ſozuſagen ein heidniſcher Urſprung der bib- liſchen behauptet. Dabei bringt es aber dieſe Betrachtungsweiſe über eine gewiſſe Halbheit ihres Verfahrens doch nicht hinaus. Die elohiſtiſchen Beſtandtheile des Pentateuchs, alſo die Schöpfungs-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/119
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/119>, abgerufen am 03.05.2024.