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Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die alte Schule eingelebten Unfehlbarkeit die Welt zu regieren glaubte, wie ein Erdbeben. Er hielt den Tag des Gerichts für gekommen; es braus'te wie ein dies irae, dies illa durch die Luft, es erschienen die Tage, die man, wie die Geschichte eine journee des dupes hat, als die Tage des bösen Gewissens bezeichnen könnte.

Mit dem Gewissen sah es beim Justizrath mißlich, beim Actuarius sehr schlecht aus. Leute dieses Schlages haben kein Gewissen im gewöhnlichen Sinne; denn sie haben ja bei allen ihren Unthaten einen Paragraphen für sich gehabt, den sie auch dem lieben Gott entgegensetzen. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, Diesen oder Jenen quäle das Gewissen, während seine Indisposition nichts als Unverdaulichkeit oder ein Diätfehler ist. Desto empfindlicher sind Leute dieses Schlages für das objective Gewissen, das in sichtbarer Gestalt daherbraus't und ihren Paragraphen für nicht Mehr ansieht, als er ist, für die Maske, hinter der die Leidenschaft und Bosheit ausgeübt wurde.

Es war daher natürlich, daß der Justizrath und sein Actuar auf Mariens Brief eingingen. Dem Erstern schien es ganz unnatürlich, daß das Mädchen nicht sein Vertrauen verdienen sollte, und der Letztere war mit Leib und Seele bei dem Plane, da er für seine Unwiderstehlichkeit ein glänzendes Zeugnis gab. Der Knabe wurde reichlich beschenkt, nachdem alle möglichen Proben und ein förmliches Verhör seine Treue unzweifelhaft gemacht hatten.

die alte Schule eingelebten Unfehlbarkeit die Welt zu regieren glaubte, wie ein Erdbeben. Er hielt den Tag des Gerichts für gekommen; es braus'te wie ein dies irae, dies illa durch die Luft, es erschienen die Tage, die man, wie die Geschichte eine journée des dupes hat, als die Tage des bösen Gewissens bezeichnen könnte.

Mit dem Gewissen sah es beim Justizrath mißlich, beim Actuarius sehr schlecht aus. Leute dieses Schlages haben kein Gewissen im gewöhnlichen Sinne; denn sie haben ja bei allen ihren Unthaten einen Paragraphen für sich gehabt, den sie auch dem lieben Gott entgegensetzen. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, Diesen oder Jenen quäle das Gewissen, während seine Indisposition nichts als Unverdaulichkeit oder ein Diätfehler ist. Desto empfindlicher sind Leute dieses Schlages für das objective Gewissen, das in sichtbarer Gestalt daherbraus't und ihren Paragraphen für nicht Mehr ansieht, als er ist, für die Maske, hinter der die Leidenschaft und Bosheit ausgeübt wurde.

Es war daher natürlich, daß der Justizrath und sein Actuar auf Mariens Brief eingingen. Dem Erstern schien es ganz unnatürlich, daß das Mädchen nicht sein Vertrauen verdienen sollte, und der Letztere war mit Leib und Seele bei dem Plane, da er für seine Unwiderstehlichkeit ein glänzendes Zeugnis gab. Der Knabe wurde reichlich beschenkt, nachdem alle möglichen Proben und ein förmliches Verhör seine Treue unzweifelhaft gemacht hatten.

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[0044] die alte Schule eingelebten Unfehlbarkeit die Welt zu regieren glaubte, wie ein Erdbeben. Er hielt den Tag des Gerichts für gekommen; es braus'te wie ein dies irae, dies illa durch die Luft, es erschienen die Tage, die man, wie die Geschichte eine journée des dupes hat, als die Tage des bösen Gewissens bezeichnen könnte. Mit dem Gewissen sah es beim Justizrath mißlich, beim Actuarius sehr schlecht aus. Leute dieses Schlages haben kein Gewissen im gewöhnlichen Sinne; denn sie haben ja bei allen ihren Unthaten einen Paragraphen für sich gehabt, den sie auch dem lieben Gott entgegensetzen. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, Diesen oder Jenen quäle das Gewissen, während seine Indisposition nichts als Unverdaulichkeit oder ein Diätfehler ist. Desto empfindlicher sind Leute dieses Schlages für das objective Gewissen, das in sichtbarer Gestalt daherbraus't und ihren Paragraphen für nicht Mehr ansieht, als er ist, für die Maske, hinter der die Leidenschaft und Bosheit ausgeübt wurde. Es war daher natürlich, daß der Justizrath und sein Actuar auf Mariens Brief eingingen. Dem Erstern schien es ganz unnatürlich, daß das Mädchen nicht sein Vertrauen verdienen sollte, und der Letztere war mit Leib und Seele bei dem Plane, da er für seine Unwiderstehlichkeit ein glänzendes Zeugnis gab. Der Knabe wurde reichlich beschenkt, nachdem alle möglichen Proben und ein förmliches Verhör seine Treue unzweifelhaft gemacht hatten.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T14:10:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T14:10:09Z)

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Zitationshilfe: Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ziegler_ernte_1910/44>, abgerufen am 29.03.2024.