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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
jedenfalls noch der sichern Nachweisung. Für den Zu-
sammenhang mit den Nachbilderscheinungen spricht auch
die Thatsache, dass, wie bei diesen, die Wirkung mit der
Intensität der Lichteindrücke zunimmt. Hierdurch unter-
scheidet sich dieser physiologische Contrast wesentlich
von gewissen psychologischen Contrasterscheinungen, mit
denen er gewöhnlich zusammengeworfen wird. Da diese
nach ihrer Entstehungsweise mit zahlreichen andern Formen
psychologischen Contrastes enge zusammenhängen, so wer-
den wir auf sie erst bei der allgemeinen Erörterung der
psychischen Contrastvorgänge (§ 17, 9) zurückkommen.

26a. Nehmen wir das Princip des Parallelismus zwischen der
Empfindung und dem physiologischen Reizungsvorgang zur Grund-
lage unserer Annahmen über die in der Netzhaut stattfindenden
Processe, so ist zunächst zu folgern, dass der relativen Selb-
ständigkeit, welche die farblosen in ihrem Verhältniss zu den
farbigen Empfindungen behaupten, auch eine analoge Selbständig-
keit der photochemischen Processe entsprechen werde. Vor
allem zwei Thatsachen, von denen die eine dem subjectiven
System der Lichtempfindungen, die andere den Erscheinungen
der objectiven Farbenmischung angehört, lassen sich hieraus am
ungezwungensten erklären. Die erste besteht in der Tendenz
jeder Farbenempfindung bei zu- oder abnehmendem Helligkeits-
grad in eine farblose Empfindung überzugehen eine Tendenz die
am einfachsten zu deuten ist, wenn man annimmt, dass jede
Farbenerregung physiologisch aus zwei Bestandtheilen zusammen-
gesetzt sei, von denen der eine der farbigen und der andere der
farblosen Erregung entspreche, womit dann leicht die weitere
Bedingung verbunden sein kann, dass bei einer gewissen mittleren
Reizstärke die farbige Erregungscomponente relativ am stärksten
ist, während bei größeren und kleineren Reizwerthen die farblose
mehr und mehr überwiegt. Die zweite Thatsache besteht in der
Erscheinung, dass je zwei beliebig gewählte Gegenfarben comple-
mentär sind, d. h. in geeignetem Mengenverhältnisse gemischt
eine farblose Empfindung erzeugen. Diese Erscheinung begreift
sich am leichtesten, wenn wir annehmen, dass die Gegenfarben,

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
jedenfalls noch der sichern Nachweisung. Für den Zu-
sammenhang mit den Nachbilderscheinungen spricht auch
die Thatsache, dass, wie bei diesen, die Wirkung mit der
Intensität der Lichteindrücke zunimmt. Hierdurch unter-
scheidet sich dieser physiologische Contrast wesentlich
von gewissen psychologischen Contrasterscheinungen, mit
denen er gewöhnlich zusammengeworfen wird. Da diese
nach ihrer Entstehungsweise mit zahlreichen andern Formen
psychologischen Contrastes enge zusammenhängen, so wer-
den wir auf sie erst bei der allgemeinen Erörterung der
psychischen Contrastvorgänge (§ 17, 9) zurückkommen.

26a. Nehmen wir das Princip des Parallelismus zwischen der
Empfindung und dem physiologischen Reizungsvorgang zur Grund-
lage unserer Annahmen über die in der Netzhaut stattfindenden
Processe, so ist zunächst zu folgern, dass der relativen Selb-
ständigkeit, welche die farblosen in ihrem Verhältniss zu den
farbigen Empfindungen behaupten, auch eine analoge Selbständig-
keit der photochemischen Processe entsprechen werde. Vor
allem zwei Thatsachen, von denen die eine dem subjectiven
System der Lichtempfindungen, die andere den Erscheinungen
der objectiven Farbenmischung angehört, lassen sich hieraus am
ungezwungensten erklären. Die erste besteht in der Tendenz
jeder Farbenempfindung bei zu- oder abnehmendem Helligkeits-
grad in eine farblose Empfindung überzugehen eine Tendenz die
am einfachsten zu deuten ist, wenn man annimmt, dass jede
Farbenerregung physiologisch aus zwei Bestandtheilen zusammen-
gesetzt sei, von denen der eine der farbigen und der andere der
farblosen Erregung entspreche, womit dann leicht die weitere
Bedingung verbunden sein kann, dass bei einer gewissen mittleren
Reizstärke die farbige Erregungscomponente relativ am stärksten
ist, während bei größeren und kleineren Reizwerthen die farblose
mehr und mehr überwiegt. Die zweite Thatsache besteht in der
Erscheinung, dass je zwei beliebig gewählte Gegenfarben comple-
mentär sind, d. h. in geeignetem Mengenverhältnisse gemischt
eine farblose Empfindung erzeugen. Diese Erscheinung begreift
sich am leichtesten, wenn wir annehmen, dass die Gegenfarben,

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[83/0099] § 6. Die reinen Empfindungen. jedenfalls noch der sichern Nachweisung. Für den Zu- sammenhang mit den Nachbilderscheinungen spricht auch die Thatsache, dass, wie bei diesen, die Wirkung mit der Intensität der Lichteindrücke zunimmt. Hierdurch unter- scheidet sich dieser physiologische Contrast wesentlich von gewissen psychologischen Contrasterscheinungen, mit denen er gewöhnlich zusammengeworfen wird. Da diese nach ihrer Entstehungsweise mit zahlreichen andern Formen psychologischen Contrastes enge zusammenhängen, so wer- den wir auf sie erst bei der allgemeinen Erörterung der psychischen Contrastvorgänge (§ 17, 9) zurückkommen. 26a. Nehmen wir das Princip des Parallelismus zwischen der Empfindung und dem physiologischen Reizungsvorgang zur Grund- lage unserer Annahmen über die in der Netzhaut stattfindenden Processe, so ist zunächst zu folgern, dass der relativen Selb- ständigkeit, welche die farblosen in ihrem Verhältniss zu den farbigen Empfindungen behaupten, auch eine analoge Selbständig- keit der photochemischen Processe entsprechen werde. Vor allem zwei Thatsachen, von denen die eine dem subjectiven System der Lichtempfindungen, die andere den Erscheinungen der objectiven Farbenmischung angehört, lassen sich hieraus am ungezwungensten erklären. Die erste besteht in der Tendenz jeder Farbenempfindung bei zu- oder abnehmendem Helligkeits- grad in eine farblose Empfindung überzugehen eine Tendenz die am einfachsten zu deuten ist, wenn man annimmt, dass jede Farbenerregung physiologisch aus zwei Bestandtheilen zusammen- gesetzt sei, von denen der eine der farbigen und der andere der farblosen Erregung entspreche, womit dann leicht die weitere Bedingung verbunden sein kann, dass bei einer gewissen mittleren Reizstärke die farbige Erregungscomponente relativ am stärksten ist, während bei größeren und kleineren Reizwerthen die farblose mehr und mehr überwiegt. Die zweite Thatsache besteht in der Erscheinung, dass je zwei beliebig gewählte Gegenfarben comple- mentär sind, d. h. in geeignetem Mengenverhältnisse gemischt eine farblose Empfindung erzeugen. Diese Erscheinung begreift sich am leichtesten, wenn wir annehmen, dass die Gegenfarben, 6*

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/99>, abgerufen am 03.05.2024.