20. In dem System der Lichtempfindungen nehmen ge- wisse Hauptempfindungen eine bevorzugte Stellung ein, weil wir sie als Orientirungspunkte zur Einordnung aller übrigen Empfindungen benutzen. Solche Hauptempfindungen sind in der farblosen Reihe Weiß und Schwarz, in der Reihe der Farbenempfindungen die vier Hauptfarben Roth, Gelb, Grün und Blau. Nur für diese sechs Empfindungen hat die Sprache verhältnissmäßig frühe schon scharf ge- schiedene Bezeichnungen gebildet. Alle andern Empfin- dungen wurden dann theils mit Rücksicht auf sie, theils sogar unter Benutzung der für sie gebrauchten Wörter ge- bildet. So fassen wir Grau als eine in der farblosen Reihe zwischen Weiß und Schwarz liegende Zwischenstufe auf. Die verschiedenen Sättigungsgrade bezeichnen wir je nach ihrem Helligkeitswerth als weißliche oder schwärzliche, helle oder dunkle Farbentöne, und für die zwischen den vier Hauptfarben gelegenen Farben wählen wir meist Ueber- gangsbezeichnungen, wie purpurroth, orangegelb, gelbgrün u. s. w., Namen, die in ihrer Bildungsweise schon ihre relativ späte Entstehung verrathen.
20a. Aus dieser größeren Ursprünglichkeit der sprachlichen Bezeichnungen für die genannten sechs Empfindungsqualitäten hat man geschlossen, sie seien in dem Sinne Grundqualitäten des Gesichtssinns, dass jede andere aus ihnen oder aus einzelnen unter ihnen zusammengesetzt sei. Grau erklärte man also für eine Mischempfindung aus Schwarz und Weiß, Violett und Purpurroth für eine solche aus Blau und Roth, u. s. w. Nun ist es aber psychologisch nicht zutreffend, dass irgend welche dieser Lichtempfindungen im Vergleich mit anderen als zu- sammengesetzt bezeichnet werden könnten. Grau ist ebenso gut eine einfache Empfindung wie weiß oder schwarz; orange, pur- purroth und dgl. sind gerade so gut einfache Empfindungen wie roth, gelb u. s. w., und irgend eine Sättigungsstufe, die wir in dem System zwischen eine reine Farbe und Weiß einordnen, ist
I. Die psychischen Elemente.
20. In dem System der Lichtempfindungen nehmen ge- wisse Hauptempfindungen eine bevorzugte Stellung ein, weil wir sie als Orientirungspunkte zur Einordnung aller übrigen Empfindungen benutzen. Solche Hauptempfindungen sind in der farblosen Reihe Weiß und Schwarz, in der Reihe der Farbenempfindungen die vier Hauptfarben Roth, Gelb, Grün und Blau. Nur für diese sechs Empfindungen hat die Sprache verhältnissmäßig frühe schon scharf ge- schiedene Bezeichnungen gebildet. Alle andern Empfin- dungen wurden dann theils mit Rücksicht auf sie, theils sogar unter Benutzung der für sie gebrauchten Wörter ge- bildet. So fassen wir Grau als eine in der farblosen Reihe zwischen Weiß und Schwarz liegende Zwischenstufe auf. Die verschiedenen Sättigungsgrade bezeichnen wir je nach ihrem Helligkeitswerth als weißliche oder schwärzliche, helle oder dunkle Farbentöne, und für die zwischen den vier Hauptfarben gelegenen Farben wählen wir meist Ueber- gangsbezeichnungen, wie purpurroth, orangegelb, gelbgrün u. s. w., Namen, die in ihrer Bildungsweise schon ihre relativ späte Entstehung verrathen.
20a. Aus dieser größeren Ursprünglichkeit der sprachlichen Bezeichnungen für die genannten sechs Empfindungsqualitäten hat man geschlossen, sie seien in dem Sinne Grundqualitäten des Gesichtssinns, dass jede andere aus ihnen oder aus einzelnen unter ihnen zusammengesetzt sei. Grau erklärte man also für eine Mischempfindung aus Schwarz und Weiß, Violett und Purpurroth für eine solche aus Blau und Roth, u. s. w. Nun ist es aber psychologisch nicht zutreffend, dass irgend welche dieser Lichtempfindungen im Vergleich mit anderen als zu- sammengesetzt bezeichnet werden könnten. Grau ist ebenso gut eine einfache Empfindung wie weiß oder schwarz; orange, pur- purroth und dgl. sind gerade so gut einfache Empfindungen wie roth, gelb u. s. w., und irgend eine Sättigungsstufe, die wir in dem System zwischen eine reine Farbe und Weiß einordnen, ist
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I. Die psychischen Elemente.
20. In dem System der Lichtempfindungen nehmen ge-
wisse Hauptempfindungen eine bevorzugte Stellung ein,
weil wir sie als Orientirungspunkte zur Einordnung aller
übrigen Empfindungen benutzen. Solche Hauptempfindungen
sind in der farblosen Reihe Weiß und Schwarz, in der
Reihe der Farbenempfindungen die vier Hauptfarben Roth,
Gelb, Grün und Blau. Nur für diese sechs Empfindungen
hat die Sprache verhältnissmäßig frühe schon scharf ge-
schiedene Bezeichnungen gebildet. Alle andern Empfin-
dungen wurden dann theils mit Rücksicht auf sie, theils
sogar unter Benutzung der für sie gebrauchten Wörter ge-
bildet. So fassen wir Grau als eine in der farblosen Reihe
zwischen Weiß und Schwarz liegende Zwischenstufe auf.
Die verschiedenen Sättigungsgrade bezeichnen wir je nach
ihrem Helligkeitswerth als weißliche oder schwärzliche, helle
oder dunkle Farbentöne, und für die zwischen den vier
Hauptfarben gelegenen Farben wählen wir meist Ueber-
gangsbezeichnungen, wie purpurroth, orangegelb, gelbgrün
u. s. w., Namen, die in ihrer Bildungsweise schon ihre relativ
späte Entstehung verrathen.
20a. Aus dieser größeren Ursprünglichkeit der sprachlichen
Bezeichnungen für die genannten sechs Empfindungsqualitäten
hat man geschlossen, sie seien in dem Sinne Grundqualitäten
des Gesichtssinns, dass jede andere aus ihnen oder aus einzelnen
unter ihnen zusammengesetzt sei. Grau erklärte man also für
eine Mischempfindung aus Schwarz und Weiß, Violett und
Purpurroth für eine solche aus Blau und Roth, u. s. w. Nun
ist es aber psychologisch nicht zutreffend, dass irgend welche
dieser Lichtempfindungen im Vergleich mit anderen als zu-
sammengesetzt bezeichnet werden könnten. Grau ist ebenso gut
eine einfache Empfindung wie weiß oder schwarz; orange, pur-
purroth und dgl. sind gerade so gut einfache Empfindungen wie
roth, gelb u. s. w., und irgend eine Sättigungsstufe, die wir in
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/90>, abgerufen am 24.11.2024.
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