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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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I. Die psychischen Elemente.
Systemen angehören, werden daher auch als disparate
bezeichnet. In diesem Sinne sind ein Ton und eine Farbe,
aber auch eine Wärme- und eine Druckempfindung, über-
haupt je zwei Empfindungen, zwischen denen keine stetigen
qualitativen Uebergänge existiren, disparat. Nach diesem
Kriterium repräsentirt jeder der vier Specialsinne (Geruch,
Geschmack, Gehör und Gesicht) ein in sich geschlossenes,
gegen jedes andere Sinnesgebiet disparates, aber mannig-
faltiges Empfindungssystem, während der allgemeine Sinn
(Tastsinn) selbst schon vier gleichförmige Empfindungssy-
steme (Druck-, Wärme-, Kälte-, Schmerzempfindungen)
enthält. Im Gegensatze hierzu bilden nun alle einfachen
Gefühle eine einzige zusammenhängende Mannigfaltigkeit,
insofern es kein Gefühl gibt, von dem aus man nicht durch
Zwischenstufen und Indifferenzzonen zu irgend einem andern
Gefühle gelangen könnte. Obgleich darum auch hier ge-
wisse Systeme unterschieden werden können, deren Elemente
näher mit einander zusammenhängen, wie z. B. das der
Farbengefühle, Tongefühle, Harmoniegefühle, rhythmischen
Gefühle u. dergl., so sind doch diese Systeme nicht absolut in
sich abgeschlossen, sondern es finden überall Beziehungen
theils der Verwandtschaft theils des Gegensatzes zu andern
Systemen statt. So zeigen sich z. B. das angenehme Gefühl
bei einer mäßigen Wärmeempfindung, das Gefühl der Ton-
harmonie, das Gefühl befriedigter Erwartung u. a., so groß
ihre qualitative Verschiedenheit auch sein mag, doch darin
verwandt, dass wir auf sie alle die allgemeine Bezeichnung
"Lustgefühle" anwendbar finden. Noch nähere Beziehungen
finden sich zwischen gewissen einzelnen Gefühlssystemen,
z. B. zwischen den Ton- und Farbengefühlen, wo tiefe Töne
den dunkeln, hohe den hellen Lichtqualitäten verwandt er-
scheinen. Wenn man hierbei meist den Empfindungen selbst
eine gewisse Verwandtschaft zuschreibt, so beruht das wahr-

I. Die psychischen Elemente.
Systemen angehören, werden daher auch als disparate
bezeichnet. In diesem Sinne sind ein Ton und eine Farbe,
aber auch eine Wärme- und eine Druckempfindung, über-
haupt je zwei Empfindungen, zwischen denen keine stetigen
qualitativen Uebergänge existiren, disparat. Nach diesem
Kriterium repräsentirt jeder der vier Specialsinne (Geruch,
Geschmack, Gehör und Gesicht) ein in sich geschlossenes,
gegen jedes andere Sinnesgebiet disparates, aber mannig-
faltiges Empfindungssystem, während der allgemeine Sinn
(Tastsinn) selbst schon vier gleichförmige Empfindungssy-
steme (Druck-, Wärme-, Kälte-, Schmerzempfindungen)
enthält. Im Gegensatze hierzu bilden nun alle einfachen
Gefühle eine einzige zusammenhängende Mannigfaltigkeit,
insofern es kein Gefühl gibt, von dem aus man nicht durch
Zwischenstufen und Indifferenzzonen zu irgend einem andern
Gefühle gelangen könnte. Obgleich darum auch hier ge-
wisse Systeme unterschieden werden können, deren Elemente
näher mit einander zusammenhängen, wie z. B. das der
Farbengefühle, Tongefühle, Harmoniegefühle, rhythmischen
Gefühle u. dergl., so sind doch diese Systeme nicht absolut in
sich abgeschlossen, sondern es finden überall Beziehungen
theils der Verwandtschaft theils des Gegensatzes zu andern
Systemen statt. So zeigen sich z. B. das angenehme Gefühl
bei einer mäßigen Wärmeempfindung, das Gefühl der Ton-
harmonie, das Gefühl befriedigter Erwartung u. a., so groß
ihre qualitative Verschiedenheit auch sein mag, doch darin
verwandt, dass wir auf sie alle die allgemeine Bezeichnung
»Lustgefühle« anwendbar finden. Noch nähere Beziehungen
finden sich zwischen gewissen einzelnen Gefühlssystemen,
z. B. zwischen den Ton- und Farbengefühlen, wo tiefe Töne
den dunkeln, hohe den hellen Lichtqualitäten verwandt er-
scheinen. Wenn man hierbei meist den Empfindungen selbst
eine gewisse Verwandtschaft zuschreibt, so beruht das wahr-

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[42/0058] I. Die psychischen Elemente. Systemen angehören, werden daher auch als disparate bezeichnet. In diesem Sinne sind ein Ton und eine Farbe, aber auch eine Wärme- und eine Druckempfindung, über- haupt je zwei Empfindungen, zwischen denen keine stetigen qualitativen Uebergänge existiren, disparat. Nach diesem Kriterium repräsentirt jeder der vier Specialsinne (Geruch, Geschmack, Gehör und Gesicht) ein in sich geschlossenes, gegen jedes andere Sinnesgebiet disparates, aber mannig- faltiges Empfindungssystem, während der allgemeine Sinn (Tastsinn) selbst schon vier gleichförmige Empfindungssy- steme (Druck-, Wärme-, Kälte-, Schmerzempfindungen) enthält. Im Gegensatze hierzu bilden nun alle einfachen Gefühle eine einzige zusammenhängende Mannigfaltigkeit, insofern es kein Gefühl gibt, von dem aus man nicht durch Zwischenstufen und Indifferenzzonen zu irgend einem andern Gefühle gelangen könnte. Obgleich darum auch hier ge- wisse Systeme unterschieden werden können, deren Elemente näher mit einander zusammenhängen, wie z. B. das der Farbengefühle, Tongefühle, Harmoniegefühle, rhythmischen Gefühle u. dergl., so sind doch diese Systeme nicht absolut in sich abgeschlossen, sondern es finden überall Beziehungen theils der Verwandtschaft theils des Gegensatzes zu andern Systemen statt. So zeigen sich z. B. das angenehme Gefühl bei einer mäßigen Wärmeempfindung, das Gefühl der Ton- harmonie, das Gefühl befriedigter Erwartung u. a., so groß ihre qualitative Verschiedenheit auch sein mag, doch darin verwandt, dass wir auf sie alle die allgemeine Bezeichnung »Lustgefühle« anwendbar finden. Noch nähere Beziehungen finden sich zwischen gewissen einzelnen Gefühlssystemen, z. B. zwischen den Ton- und Farbengefühlen, wo tiefe Töne den dunkeln, hohe den hellen Lichtqualitäten verwandt er- scheinen. Wenn man hierbei meist den Empfindungen selbst eine gewisse Verwandtschaft zuschreibt, so beruht das wahr-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/58>, abgerufen am 03.05.2024.