4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegen- sätzen ist eine Anwendung des Gesetzes der Contrast- verstärkung auf umfassendere, in Entwicklungsreihen sich ordnende Zusammenhänge. Diese bieten nämlich in Folge jenes fundamentalen Beziehungsgesetzes die Eigenschaft dar, dass Gefühle und Triebe, die zunächst von geringer Inten- sität sind, durch den Contrast zu den während einer gewissen Zeit überwiegenden Gefühlen von entgegengesetzter Qualität allmählich anwachsen, um endlich die bisher vorherrschen- den Motive zu überwältigen und nun selbst während einer kürzeren oder längeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen. Hierauf kann sich dann der nämliche Wechsel noch einmal oder sogar mehrmals wiederholen. Doch pflegen bei solchen Oscillationen in der Regel zugleich das Princip des geistigen Wachsthums und das der Heterogonie der Zwecke ihre Wir- kungen geltend zu machen, so dass die nachfolgenden Phasen zwar in der allgemeinen Gefühlsrichtung den vorangegangenen gleichartigen Phasen ähnlich sind, in ihren einzelnen Be- standheilen aber wesentlich verschieden zu sein pflegen.
Das Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen macht sich schon in der individuellen geistigen Entwicklung theils in individuell wechselnder Weise innerhalb kürzerer Zeiträume theils aber auch mit einer gewissen allgemeingültigen Regel- mäßigkeit in dem Verhältniss einzelner Lebensperioden zu einander geltend. In diesem Sinne hat man längst be- obachtet, dass die vorwiegenden Temperamente der ver- schiedenen Lebensalter gewisse Contraste darbieten. So geht die leichte, aber selten tiefgehende sanguinische Erregbar- keit des Kindesalters in die die Eindrücke langsamer verar- beitende, aber energischer festhaltende und häufig melancho- lisch angehauchte Gemüthsrichtung des Jünglingsalters, dieses wieder in das bei ausgereiftem Charakter im allgemeinen am meisten zu raschen, thatkräftigen Entschlüssen und Hand-
§ 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze.
4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegen- sätzen ist eine Anwendung des Gesetzes der Contrast- verstärkung auf umfassendere, in Entwicklungsreihen sich ordnende Zusammenhänge. Diese bieten nämlich in Folge jenes fundamentalen Beziehungsgesetzes die Eigenschaft dar, dass Gefühle und Triebe, die zunächst von geringer Inten- sität sind, durch den Contrast zu den während einer gewissen Zeit überwiegenden Gefühlen von entgegengesetzter Qualität allmählich anwachsen, um endlich die bisher vorherrschen- den Motive zu überwältigen und nun selbst während einer kürzeren oder längeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen. Hierauf kann sich dann der nämliche Wechsel noch einmal oder sogar mehrmals wiederholen. Doch pflegen bei solchen Oscillationen in der Regel zugleich das Princip des geistigen Wachsthums und das der Heterogonie der Zwecke ihre Wir- kungen geltend zu machen, so dass die nachfolgenden Phasen zwar in der allgemeinen Gefühlsrichtung den vorangegangenen gleichartigen Phasen ähnlich sind, in ihren einzelnen Be- standheilen aber wesentlich verschieden zu sein pflegen.
Das Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen macht sich schon in der individuellen geistigen Entwicklung theils in individuell wechselnder Weise innerhalb kürzerer Zeiträume theils aber auch mit einer gewissen allgemeingültigen Regel- mäßigkeit in dem Verhältniss einzelner Lebensperioden zu einander geltend. In diesem Sinne hat man längst be- obachtet, dass die vorwiegenden Temperamente der ver- schiedenen Lebensalter gewisse Contraste darbieten. So geht die leichte, aber selten tiefgehende sanguinische Erregbar- keit des Kindesalters in die die Eindrücke langsamer verar- beitende, aber energischer festhaltende und häufig melancho- lisch angehauchte Gemüthsrichtung des Jünglingsalters, dieses wieder in das bei ausgereiftem Charakter im allgemeinen am meisten zu raschen, thatkräftigen Entschlüssen und Hand-
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§ 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze.
4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegen-
sätzen ist eine Anwendung des Gesetzes der Contrast-
verstärkung auf umfassendere, in Entwicklungsreihen sich
ordnende Zusammenhänge. Diese bieten nämlich in Folge
jenes fundamentalen Beziehungsgesetzes die Eigenschaft dar,
dass Gefühle und Triebe, die zunächst von geringer Inten-
sität sind, durch den Contrast zu den während einer gewissen
Zeit überwiegenden Gefühlen von entgegengesetzter Qualität
allmählich anwachsen, um endlich die bisher vorherrschen-
den Motive zu überwältigen und nun selbst während einer
kürzeren oder längeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen.
Hierauf kann sich dann der nämliche Wechsel noch einmal
oder sogar mehrmals wiederholen. Doch pflegen bei solchen
Oscillationen in der Regel zugleich das Princip des geistigen
Wachsthums und das der Heterogonie der Zwecke ihre Wir-
kungen geltend zu machen, so dass die nachfolgenden Phasen
zwar in der allgemeinen Gefühlsrichtung den vorangegangenen
gleichartigen Phasen ähnlich sind, in ihren einzelnen Be-
standheilen aber wesentlich verschieden zu sein pflegen.
Das Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen macht sich
schon in der individuellen geistigen Entwicklung theils in
individuell wechselnder Weise innerhalb kürzerer Zeiträume
theils aber auch mit einer gewissen allgemeingültigen Regel-
mäßigkeit in dem Verhältniss einzelner Lebensperioden zu
einander geltend. In diesem Sinne hat man längst be-
obachtet, dass die vorwiegenden Temperamente der ver-
schiedenen Lebensalter gewisse Contraste darbieten. So geht
die leichte, aber selten tiefgehende sanguinische Erregbar-
keit des Kindesalters in die die Eindrücke langsamer verar-
beitende, aber energischer festhaltende und häufig melancho-
lisch angehauchte Gemüthsrichtung des Jünglingsalters, dieses
wieder in das bei ausgereiftem Charakter im allgemeinen
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/399>, abgerufen am 24.11.2024.
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