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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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IV. Die psychischen Entwicklungen.
Gesammtbewusstseins und Gesammtwillens und ihre Eigen-
schaften hervorgehen.

14a. Die Thatsachen, die aus der Existenz der geistigen
Gemeinschaften entspringen, sind erst in neuester Zeit in den
Umkreis psychologischer Aufgaben eingetreten. Man wies früher
die hierher gehörigen Probleme entweder gewissen einzelnen
Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Geschichte, Jurisprudenz
u. dgl.) oder, soweit sie allgemeinerer Natur waren, der Philo-
sophie d. h. Metaphysik zu. Soweit die Psychologie sich auf die-
selben einließ, war sie aber, ebenso wie die einschlagenden Einzel-
wissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w., meist beherrscht
von jenem Reflexionsstandpunkt der Vulgärpsychologie, der ge-
neigt ist alle geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaften so viel
wie möglich als willkürliche, von Anfang an auf bestimmte
Nützlichkeitszwecke gerichtete Erfindungen zu behandeln. Ihren
hauptsächlichsten philosophischen Ausdruck fand diese Anschau-
ung in der Lehre vom "Staatsvertrag", nach welcher die geistige
Gemeinschaft überhaupt nichts ursprüngliches und natürliches
sein sollte, sondern auf die willkürliche Vereinigung einer Summe
von Individuen zurückgeführt wurde. Eine Nachwirkung dieser
unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völker-
psychologie völlig rathlosen Auffassung ist es übrigens, wenn
heute noch die Begriffe eines Gesammtbewusstseins und Gesammt-
willens den gröbsten Missverständnissen begegnen, da man, statt
sie einfach als einen Ausdruck für die thatsächliche Ueberein-
stimmung und die thatsächlichen Wechselwirkungen der Indivi-
duen einer Gemeinschaft zu betrachten, vielmehr hinter ihnen
irgend ein mythologisches Wesen oder mindestens eine meta-
physische Substanz zu wittern pflegt.



IV. Die psychischen Entwicklungen.
Gesammtbewusstseins und Gesammtwillens und ihre Eigen-
schaften hervorgehen.

14a. Die Thatsachen, die aus der Existenz der geistigen
Gemeinschaften entspringen, sind erst in neuester Zeit in den
Umkreis psychologischer Aufgaben eingetreten. Man wies früher
die hierher gehörigen Probleme entweder gewissen einzelnen
Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Geschichte, Jurisprudenz
u. dgl.) oder, soweit sie allgemeinerer Natur waren, der Philo-
sophie d. h. Metaphysik zu. Soweit die Psychologie sich auf die-
selben einließ, war sie aber, ebenso wie die einschlagenden Einzel-
wissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w., meist beherrscht
von jenem Reflexionsstandpunkt der Vulgärpsychologie, der ge-
neigt ist alle geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaften so viel
wie möglich als willkürliche, von Anfang an auf bestimmte
Nützlichkeitszwecke gerichtete Erfindungen zu behandeln. Ihren
hauptsächlichsten philosophischen Ausdruck fand diese Anschau-
ung in der Lehre vom »Staatsvertrag«, nach welcher die geistige
Gemeinschaft überhaupt nichts ursprüngliches und natürliches
sein sollte, sondern auf die willkürliche Vereinigung einer Summe
von Individuen zurückgeführt wurde. Eine Nachwirkung dieser
unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völker-
psychologie völlig rathlosen Auffassung ist es übrigens, wenn
heute noch die Begriffe eines Gesammtbewusstseins und Gesammt-
willens den gröbsten Missverständnissen begegnen, da man, statt
sie einfach als einen Ausdruck für die thatsächliche Ueberein-
stimmung und die thatsächlichen Wechselwirkungen der Indivi-
duen einer Gemeinschaft zu betrachten, vielmehr hinter ihnen
irgend ein mythologisches Wesen oder mindestens eine meta-
physische Substanz zu wittern pflegt.



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[362/0378] IV. Die psychischen Entwicklungen. Gesammtbewusstseins und Gesammtwillens und ihre Eigen- schaften hervorgehen. 14a. Die Thatsachen, die aus der Existenz der geistigen Gemeinschaften entspringen, sind erst in neuester Zeit in den Umkreis psychologischer Aufgaben eingetreten. Man wies früher die hierher gehörigen Probleme entweder gewissen einzelnen Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Geschichte, Jurisprudenz u. dgl.) oder, soweit sie allgemeinerer Natur waren, der Philo- sophie d. h. Metaphysik zu. Soweit die Psychologie sich auf die- selben einließ, war sie aber, ebenso wie die einschlagenden Einzel- wissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w., meist beherrscht von jenem Reflexionsstandpunkt der Vulgärpsychologie, der ge- neigt ist alle geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaften so viel wie möglich als willkürliche, von Anfang an auf bestimmte Nützlichkeitszwecke gerichtete Erfindungen zu behandeln. Ihren hauptsächlichsten philosophischen Ausdruck fand diese Anschau- ung in der Lehre vom »Staatsvertrag«, nach welcher die geistige Gemeinschaft überhaupt nichts ursprüngliches und natürliches sein sollte, sondern auf die willkürliche Vereinigung einer Summe von Individuen zurückgeführt wurde. Eine Nachwirkung dieser unpsychologischen und gegenüber den Problemen der Völker- psychologie völlig rathlosen Auffassung ist es übrigens, wenn heute noch die Begriffe eines Gesammtbewusstseins und Gesammt- willens den gröbsten Missverständnissen begegnen, da man, statt sie einfach als einen Ausdruck für die thatsächliche Ueberein- stimmung und die thatsächlichen Wechselwirkungen der Indivi- duen einer Gemeinschaft zu betrachten, vielmehr hinter ihnen irgend ein mythologisches Wesen oder mindestens eine meta- physische Substanz zu wittern pflegt.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/378>, abgerufen am 28.11.2024.