Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.

27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung von fern
und nahe kommt in Betracht, dass uns unter den natür-
lichen Bedingungen des Sehens niemals bloß isolirte Punkte,
sondern dass uns ausgedehnte körperliche Objecte
oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung
gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verhältniss zu
einander auf den zu ihnen gehörigen Orientirungslinien
verschiedene Entfernungen anweisen.

Fassen wir nun hier zunächst den einfachsten Fall ins
Auge, dass zwei in verschiedener Tiefendistanz gelegene
Punkte a und b gegeben und durch eine gerade Linie
mit einander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation
zwischen a und b führt dann stets zugleich eine Convergenz-
änderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel
der Fixation erstens das Durchlaufen einer der Strecke a b
entsprechenden stetigen Reihe von Localzeichen der Netz-
haut und zweitens eine der Convergenz um die Distanz a b
entsprechende Bewegungsempfindung a hervorbringen. Damit
sind auch hier die Elemente eines räumlichen Verschmel-
zungsproductes gegeben. Dieses Verschmelzungsproduct ist
aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden
Bestandtheilen, in der ablaufenden Localzeichenreihe und in
den begleitenden Bewegungsempfindungen, durchaus von
jenen Verschmelzungsproducten, die beim Durchlaufen einer
Strecke im Sehfeld entstehen (S. 151). Während in diesem
letzteren Fall die Veränderungen sowohl der Localzeichen wie
der Bewegungsempfindungen in beiden Augen im gleichen
Sinne erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blick-
punktes von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal
in beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn
sich bei der Convergenzänderung das rechte Auge nach links
dreht, so dreht sich das linke Auge nach rechts, und um-
gekehrt; das nämliche muss dann aber von der Bewegung

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.

27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung von fern
und nahe kommt in Betracht, dass uns unter den natür-
lichen Bedingungen des Sehens niemals bloß isolirte Punkte,
sondern dass uns ausgedehnte körperliche Objecte
oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung
gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verhältniss zu
einander auf den zu ihnen gehörigen Orientirungslinien
verschiedene Entfernungen anweisen.

Fassen wir nun hier zunächst den einfachsten Fall ins
Auge, dass zwei in verschiedener Tiefendistanz gelegene
Punkte a und b gegeben und durch eine gerade Linie
mit einander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation
zwischen a und b führt dann stets zugleich eine Convergenz-
änderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel
der Fixation erstens das Durchlaufen einer der Strecke a b
entsprechenden stetigen Reihe von Localzeichen der Netz-
haut und zweitens eine der Convergenz um die Distanz a b
entsprechende Bewegungsempfindung α hervorbringen. Damit
sind auch hier die Elemente eines räumlichen Verschmel-
zungsproductes gegeben. Dieses Verschmelzungsproduct ist
aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden
Bestandtheilen, in der ablaufenden Localzeichenreihe und in
den begleitenden Bewegungsempfindungen, durchaus von
jenen Verschmelzungsproducten, die beim Durchlaufen einer
Strecke im Sehfeld entstehen (S. 151). Während in diesem
letzteren Fall die Veränderungen sowohl der Localzeichen wie
der Bewegungsempfindungen in beiden Augen im gleichen
Sinne erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blick-
punktes von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal
in beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn
sich bei der Convergenzänderung das rechte Auge nach links
dreht, so dreht sich das linke Auge nach rechts, und um-
gekehrt; das nämliche muss dann aber von der Bewegung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0173" n="157"/>
              <fw place="top" type="header">§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.</fw><lb/>
              <p>27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung von fern<lb/>
und nahe kommt in Betracht, dass uns unter den natür-<lb/>
lichen Bedingungen des Sehens niemals bloß isolirte Punkte,<lb/>
sondern dass uns <hi rendition="#g">ausgedehnte körperliche Objecte</hi><lb/>
oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung<lb/>
gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verhältniss zu<lb/>
einander auf den zu ihnen gehörigen Orientirungslinien<lb/>
verschiedene Entfernungen anweisen.</p><lb/>
              <p>Fassen wir nun hier zunächst den einfachsten Fall ins<lb/>
Auge, dass <hi rendition="#g">zwei</hi> in verschiedener Tiefendistanz gelegene<lb/>
Punkte <hi rendition="#i">a</hi> und <hi rendition="#i">b</hi> gegeben und durch eine gerade Linie<lb/>
mit einander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation<lb/>
zwischen <hi rendition="#i">a</hi> und <hi rendition="#i">b</hi> führt dann stets zugleich eine Convergenz-<lb/>
änderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel<lb/>
der Fixation erstens das Durchlaufen einer der Strecke <hi rendition="#i">a b</hi><lb/>
entsprechenden stetigen Reihe von Localzeichen der Netz-<lb/>
haut und zweitens eine der Convergenz um die Distanz <hi rendition="#i">a b</hi><lb/>
entsprechende Bewegungsempfindung &#x03B1; hervorbringen. Damit<lb/>
sind auch hier die Elemente eines räumlichen Verschmel-<lb/>
zungsproductes gegeben. Dieses Verschmelzungsproduct ist<lb/>
aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden<lb/>
Bestandtheilen, in der ablaufenden Localzeichenreihe und in<lb/>
den begleitenden Bewegungsempfindungen, durchaus von<lb/>
jenen Verschmelzungsproducten, die beim Durchlaufen einer<lb/>
Strecke im Sehfeld entstehen (S. 151). Während in diesem<lb/>
letzteren Fall die Veränderungen sowohl der Localzeichen wie<lb/>
der Bewegungsempfindungen in beiden Augen im <hi rendition="#g">gleichen</hi><lb/>
Sinne erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blick-<lb/>
punktes von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal<lb/>
in beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn<lb/>
sich bei der Convergenzänderung das rechte Auge nach links<lb/>
dreht, so dreht sich das linke Auge nach rechts, und um-<lb/>
gekehrt; das nämliche muss dann aber von der Bewegung<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0173] § 10. Die räumlichen Vorstellungen. 27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung von fern und nahe kommt in Betracht, dass uns unter den natür- lichen Bedingungen des Sehens niemals bloß isolirte Punkte, sondern dass uns ausgedehnte körperliche Objecte oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verhältniss zu einander auf den zu ihnen gehörigen Orientirungslinien verschiedene Entfernungen anweisen. Fassen wir nun hier zunächst den einfachsten Fall ins Auge, dass zwei in verschiedener Tiefendistanz gelegene Punkte a und b gegeben und durch eine gerade Linie mit einander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation zwischen a und b führt dann stets zugleich eine Convergenz- änderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel der Fixation erstens das Durchlaufen einer der Strecke a b entsprechenden stetigen Reihe von Localzeichen der Netz- haut und zweitens eine der Convergenz um die Distanz a b entsprechende Bewegungsempfindung α hervorbringen. Damit sind auch hier die Elemente eines räumlichen Verschmel- zungsproductes gegeben. Dieses Verschmelzungsproduct ist aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden Bestandtheilen, in der ablaufenden Localzeichenreihe und in den begleitenden Bewegungsempfindungen, durchaus von jenen Verschmelzungsproducten, die beim Durchlaufen einer Strecke im Sehfeld entstehen (S. 151). Während in diesem letzteren Fall die Veränderungen sowohl der Localzeichen wie der Bewegungsempfindungen in beiden Augen im gleichen Sinne erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blick- punktes von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal in beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn sich bei der Convergenzänderung das rechte Auge nach links dreht, so dreht sich das linke Auge nach rechts, und um- gekehrt; das nämliche muss dann aber von der Bewegung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/173
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/173>, abgerufen am 06.05.2024.