Auge die in der Richtung der erschwerten Bewegung ge- legenen Strecken vergrößert erscheinen, gerade so gut wird das auch für das normale Auge gelten.
19a. Neben der durch ihre Größe am meisten auffallenden Abweichung zwischen vertical und horizontal findet sich noch eine unbedeutendere zwischen oben und unten sowie eine solche zwischen außen und innen, indem die obere Hälfte einer ver- ticalen und die äußere einer horizontalen Geraden, jene durch- schnittlich um , diese um überschätzt wird. Die erste dieser Abweichungen kann möglicher Weise von einer geringeren Asymmetrie in der Anordnung der oberen und unteren Muskeln, sie kann aber auch von der unwillkürlichen Convergenz der Blicklinien bei der Bewegung nach abwärts, oder sie kann end- lich von beiden Bedingungen zugleich herrühren. Da nämlich diese Convergenz einer Annäherung des Objectes entspricht, so sind wir im allgemeinen geneigt, die untere Hälfte einer ver- ticalen Linie näher und daher vermöge der später (§ 16, 9) zu erörternden Associationsbedingungen bei gleichem Gesichtswinkel kleiner als die obere zu sehen. Diese perspectivische Inter- pretation kann übrigens auf die oben erörterte bedeutendste unter diesen Größentäuschungen, die Ueberschätzung der ver- ticalen gegenüber der horizontalen Strecke, nicht übertragen werden, da dieselbe in diesem Fall der Größentäuschung zwischen den beiden Hälften der Verticalen höchstens nahe kommen könnte, während sie in Wirklichkeit ungefähr dreimal größer ist. Ueberdies spricht dagegen auch der Umstand, dass die Täuschung nur bei der Vergleichung geradliniger Strecken, nicht aber bei Objecten mit gekrümmten Begrenzungslinien stattfindet. Ein Kreis erscheint also z. B. nicht als eine Ellipse mit aufrecht stehender größerer Axe, sondern als ein wirklicher Kreis. Auch die kleine Ueberschätzung der äußeren Hälfte einer Horizontalen ist am wahrscheinlichsten aus den Asymmetrien der Muskel- wirkung abzuleiten, welche mit der relativen Erleichterung der Convergenzbewegungen zusammenhängen.
20. Diesen beiden Richtungs- und Größentäuschungen die sich auf bestimmte, in den besonderen Zwecken des
II. Die psychischen Gebilde.
Auge die in der Richtung der erschwerten Bewegung ge- legenen Strecken vergrößert erscheinen, gerade so gut wird das auch für das normale Auge gelten.
19a. Neben der durch ihre Größe am meisten auffallenden Abweichung zwischen vertical und horizontal findet sich noch eine unbedeutendere zwischen oben und unten sowie eine solche zwischen außen und innen, indem die obere Hälfte einer ver- ticalen und die äußere einer horizontalen Geraden, jene durch- schnittlich um , diese um überschätzt wird. Die erste dieser Abweichungen kann möglicher Weise von einer geringeren Asymmetrie in der Anordnung der oberen und unteren Muskeln, sie kann aber auch von der unwillkürlichen Convergenz der Blicklinien bei der Bewegung nach abwärts, oder sie kann end- lich von beiden Bedingungen zugleich herrühren. Da nämlich diese Convergenz einer Annäherung des Objectes entspricht, so sind wir im allgemeinen geneigt, die untere Hälfte einer ver- ticalen Linie näher und daher vermöge der später (§ 16, 9) zu erörternden Associationsbedingungen bei gleichem Gesichtswinkel kleiner als die obere zu sehen. Diese perspectivische Inter- pretation kann übrigens auf die oben erörterte bedeutendste unter diesen Größentäuschungen, die Ueberschätzung der ver- ticalen gegenüber der horizontalen Strecke, nicht übertragen werden, da dieselbe in diesem Fall der Größentäuschung zwischen den beiden Hälften der Verticalen höchstens nahe kommen könnte, während sie in Wirklichkeit ungefähr dreimal größer ist. Ueberdies spricht dagegen auch der Umstand, dass die Täuschung nur bei der Vergleichung geradliniger Strecken, nicht aber bei Objecten mit gekrümmten Begrenzungslinien stattfindet. Ein Kreis erscheint also z. B. nicht als eine Ellipse mit aufrecht stehender größerer Axe, sondern als ein wirklicher Kreis. Auch die kleine Ueberschätzung der äußeren Hälfte einer Horizontalen ist am wahrscheinlichsten aus den Asymmetrien der Muskel- wirkung abzuleiten, welche mit der relativen Erleichterung der Convergenzbewegungen zusammenhängen.
20. Diesen beiden Richtungs- und Größentäuschungen die sich auf bestimmte, in den besonderen Zwecken des
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II. Die psychischen Gebilde.
Auge die in der Richtung der erschwerten Bewegung ge-
legenen Strecken vergrößert erscheinen, gerade so gut wird
das auch für das normale Auge gelten.
19a. Neben der durch ihre Größe am meisten auffallenden
Abweichung zwischen vertical und horizontal findet sich noch
eine unbedeutendere zwischen oben und unten sowie eine solche
zwischen außen und innen, indem die obere Hälfte einer ver-
ticalen und die äußere einer horizontalen Geraden, jene durch-
schnittlich um [FORMEL], diese um [FORMEL] überschätzt wird. Die erste
dieser Abweichungen kann möglicher Weise von einer geringeren
Asymmetrie in der Anordnung der oberen und unteren Muskeln,
sie kann aber auch von der unwillkürlichen Convergenz der
Blicklinien bei der Bewegung nach abwärts, oder sie kann end-
lich von beiden Bedingungen zugleich herrühren. Da nämlich
diese Convergenz einer Annäherung des Objectes entspricht, so
sind wir im allgemeinen geneigt, die untere Hälfte einer ver-
ticalen Linie näher und daher vermöge der später (§ 16, 9) zu
erörternden Associationsbedingungen bei gleichem Gesichtswinkel
kleiner als die obere zu sehen. Diese perspectivische Inter-
pretation kann übrigens auf die oben erörterte bedeutendste
unter diesen Größentäuschungen, die Ueberschätzung der ver-
ticalen gegenüber der horizontalen Strecke, nicht übertragen
werden, da dieselbe in diesem Fall der Größentäuschung zwischen
den beiden Hälften der Verticalen höchstens nahe kommen könnte,
während sie in Wirklichkeit ungefähr dreimal größer ist.
Ueberdies spricht dagegen auch der Umstand, dass die Täuschung
nur bei der Vergleichung geradliniger Strecken, nicht aber
bei Objecten mit gekrümmten Begrenzungslinien stattfindet. Ein
Kreis erscheint also z. B. nicht als eine Ellipse mit aufrecht
stehender größerer Axe, sondern als ein wirklicher Kreis. Auch
die kleine Ueberschätzung der äußeren Hälfte einer Horizontalen
ist am wahrscheinlichsten aus den Asymmetrien der Muskel-
wirkung abzuleiten, welche mit der relativen Erleichterung der
Convergenzbewegungen zusammenhängen.
20. Diesen beiden Richtungs- und Größentäuschungen
die sich auf bestimmte, in den besonderen Zwecken des
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/162>, abgerufen am 25.11.2024.
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