Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite



mit seinen traurenden Geliebten unter demselben,
und dein Auge sähe thränend zu ihm hinauf.
Wie angstvoll sind da die lezten Auftritte, die
sich doch so unerwartet bald, und so erwünscht,
in einen friedenvollen Tod auflösen! -- Meh-
rere Stunden, hatte schon, unter allen seinen
bethränten Geliebten, am bängsten, -- die hoff-
nungslose Marie, seinem Jammer zugesehn:
ein schneidendes Schwerdt drang durch ihre
ganze Seele; jedes seiner lezten denkwürdigen
Worte, ward für sie eine Quelle der wehmüthig-
sten Empfindungen. Wie vermogte doch ihr
zärtliches Herz den grauenvollen Anblick zu er-
tragen: ihn da, zwischen Himmel und Erde han-
gen zu sehn! ihn, den geliebten, edelmüthigen
Sohn, der den Todesschmerz vergißt, seine
verlaßne Mutter zu trösten; ihn, den zärthchen
Freund, der minder klagt, damit seine Freunde
weniger weinen mögen! ihn, den Freund der
Menschen, der selbst Stärkung bedurfte, und
mitleidsvoll einen Unglücklichen stärkt, der neben
ihm vor dem Tode zittert! ihn, den Freund sei-
ner Feinde, der für seine Mörder um Verge-
bung bittet! ihn, den Geliebten Gottes! --
klagend, daß Gott ihn verließe! -- von sei-
nen Feinden geschmäht, ohne Labung, im To-

de!



mit ſeinen traurenden Geliebten unter demſelben,
und dein Auge ſähe thränend zu ihm hinauf.
Wie angſtvoll ſind da die lezten Auftritte, die
ſich doch ſo unerwartet bald, und ſo erwünſcht,
in einen friedenvollen Tod auflöſen! — Meh-
rere Stunden, hatte ſchon, unter allen ſeinen
bethränten Geliebten, am bängſten, — die hoff-
nungsloſe Marie, ſeinem Jammer zugeſehn:
ein ſchneidendes Schwerdt drang durch ihre
ganze Seele; jedes ſeiner lezten denkwürdigen
Worte, ward für ſie eine Quelle der wehmüthig-
ſten Empfindungen. Wie vermogte doch ihr
zärtliches Herz den grauenvollen Anblick zu er-
tragen: ihn da, zwiſchen Himmel und Erde han-
gen zu ſehn! ihn, den geliebten, edelmüthigen
Sohn, der den Todesſchmerz vergißt, ſeine
verlaßne Mutter zu tröſten; ihn, den zärthchen
Freund, der minder klagt, damit ſeine Freunde
weniger weinen mögen! ihn, den Freund der
Menſchen, der ſelbſt Stärkung bedurfte, und
mitleidsvoll einen Unglücklichen ſtärkt, der neben
ihm vor dem Tode zittert! ihn, den Freund ſei-
ner Feinde, der für ſeine Mörder um Verge-
bung bittet! ihn, den Geliebten Gottes! —
klagend, daß Gott ihn verließe! — von ſei-
nen Feinden geſchmäht, ohne Labung, im To-

de!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0326" n="274"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
mit &#x017F;einen traurenden Geliebten unter dem&#x017F;elben,<lb/>
und dein Auge &#x017F;ähe thränend zu ihm hinauf.<lb/>
Wie ang&#x017F;tvoll &#x017F;ind da die lezten Auftritte, die<lb/>
&#x017F;ich doch &#x017F;o unerwartet bald, und &#x017F;o erwün&#x017F;cht,<lb/>
in einen friedenvollen Tod auflö&#x017F;en! &#x2014; Meh-<lb/>
rere Stunden, hatte &#x017F;chon, unter allen &#x017F;einen<lb/>
bethränten Geliebten, am bäng&#x017F;ten, &#x2014; die hoff-<lb/>
nungslo&#x017F;e Marie, &#x017F;einem Jammer zuge&#x017F;ehn:<lb/>
ein <hi rendition="#fr">&#x017F;chneidendes Schwerdt</hi> drang durch ihre<lb/>
ganze Seele; jedes &#x017F;einer lezten denkwürdigen<lb/>
Worte, ward für &#x017F;ie eine Quelle der wehmüthig-<lb/>
&#x017F;ten Empfindungen. Wie vermogte doch ihr<lb/>
zärtliches Herz den grauenvollen Anblick zu er-<lb/>
tragen: ihn da, zwi&#x017F;chen Himmel und Erde han-<lb/>
gen zu &#x017F;ehn! ihn, den geliebten, edelmüthigen<lb/>
Sohn, der den Todes&#x017F;chmerz vergißt, &#x017F;eine<lb/>
verlaßne Mutter zu trö&#x017F;ten; ihn, den zärthchen<lb/>
Freund, der minder klagt, damit &#x017F;eine Freunde<lb/>
weniger weinen mögen! ihn, den Freund der<lb/>
Men&#x017F;chen, der &#x017F;elb&#x017F;t Stärkung bedurfte, und<lb/>
mitleidsvoll einen Unglücklichen &#x017F;tärkt, der neben<lb/>
ihm vor dem Tode zittert! ihn, den Freund &#x017F;ei-<lb/>
ner Feinde, der für &#x017F;eine Mörder um Verge-<lb/>
bung bittet! ihn, den Geliebten Gottes! &#x2014;<lb/>
klagend, <hi rendition="#fr">daß Gott ihn verließe!</hi> &#x2014; von &#x017F;ei-<lb/>
nen Feinden ge&#x017F;chmäht, ohne Labung, im To-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">de!</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0326] mit ſeinen traurenden Geliebten unter demſelben, und dein Auge ſähe thränend zu ihm hinauf. Wie angſtvoll ſind da die lezten Auftritte, die ſich doch ſo unerwartet bald, und ſo erwünſcht, in einen friedenvollen Tod auflöſen! — Meh- rere Stunden, hatte ſchon, unter allen ſeinen bethränten Geliebten, am bängſten, — die hoff- nungsloſe Marie, ſeinem Jammer zugeſehn: ein ſchneidendes Schwerdt drang durch ihre ganze Seele; jedes ſeiner lezten denkwürdigen Worte, ward für ſie eine Quelle der wehmüthig- ſten Empfindungen. Wie vermogte doch ihr zärtliches Herz den grauenvollen Anblick zu er- tragen: ihn da, zwiſchen Himmel und Erde han- gen zu ſehn! ihn, den geliebten, edelmüthigen Sohn, der den Todesſchmerz vergißt, ſeine verlaßne Mutter zu tröſten; ihn, den zärthchen Freund, der minder klagt, damit ſeine Freunde weniger weinen mögen! ihn, den Freund der Menſchen, der ſelbſt Stärkung bedurfte, und mitleidsvoll einen Unglücklichen ſtärkt, der neben ihm vor dem Tode zittert! ihn, den Freund ſei- ner Feinde, der für ſeine Mörder um Verge- bung bittet! ihn, den Geliebten Gottes! — klagend, daß Gott ihn verließe! — von ſei- nen Feinden geſchmäht, ohne Labung, im To- de!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/326
Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/326>, abgerufen am 25.11.2024.