Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

von der Prädelineation.
der Luft erdenken; sondern man muß, wie es der
Herr von Haller und andere gute Naturforscher
immer gemacht haben, sich nach einem andern ähn-
lichen Fall in der Natur umsehn, wo der Wahr-
heit leichter beyzukommen ist; hieraus muß man
so lange, bis man Beobachtungen bekömmt, die
die Sache demonstriren, wahrscheinlicher Weise
schließen, daß es sich mit jener unbekannten Sa-
che, unfehlbahr eben so verhalten werde. Je mehr
man ähnliche Fälle entdeckt, worin die Natur auf
eben dieselbe Art verfährt, einen desto höhern Grad
der Wahrscheinlichkeit bekömmt die Hypothese, und
wenn man endlich eine ganze Menge dergleichen
ähnlicher und zwar würklich ähnlicher Fälle auf-
weisen kann, so sagt man alsdann, es ist der
Natur gewöhnlich, so zu handeln,
oder wenn
es sehr weit geht, so sage man wohl gar es ist ein
Gesetz der Natur, nach welchem sie so handeln
muß, und die Hypothese wird eine physische Wahr-
heit. Wenn aber hingegen man keinen einzigen
Fall in der Natur entdecken kann, wo sie so ver-
führe, wie in einer Hypothese angenommen wird;
wenn diese nichts weiter vor sich hat, als eine blos-
se Möglichkeit, als bloß dieses, daß sie keinen Wi-
derspruch enthält; alsdann ist einem Naturfor-
scher eine solche Hypothese ein verächtliches und
unerträgliches Ding, und das kommt daher; sie
harmonirt gar nicht mit dem Begriff, welchen er
von der gegenwärtigen Natur durch Erfahrungen
bekommen hat. Er sagt alsdann, ich finde gar
nicht den allergeringsten Grund, warum ich diese

Chi-
C 5

von der Praͤdelineation.
der Luft erdenken; ſondern man muß, wie es der
Herr von Haller und andere gute Naturforſcher
immer gemacht haben, ſich nach einem andern aͤhn-
lichen Fall in der Natur umſehn, wo der Wahr-
heit leichter beyzukommen iſt; hieraus muß man
ſo lange, bis man Beobachtungen bekoͤmmt, die
die Sache demonſtriren, wahrſcheinlicher Weiſe
ſchließen, daß es ſich mit jener unbekannten Sa-
che, unfehlbahr eben ſo verhalten werde. Je mehr
man aͤhnliche Faͤlle entdeckt, worin die Natur auf
eben dieſelbe Art verfaͤhrt, einen deſto hoͤhern Grad
der Wahrſcheinlichkeit bekoͤmmt die Hypotheſe, und
wenn man endlich eine ganze Menge dergleichen
aͤhnlicher und zwar wuͤrklich aͤhnlicher Faͤlle auf-
weiſen kann, ſo ſagt man alsdann, es iſt der
Natur gewoͤhnlich, ſo zu handeln,
oder wenn
es ſehr weit geht, ſo ſage man wohl gar es iſt ein
Geſetz der Natur, nach welchem ſie ſo handeln
muß, und die Hypotheſe wird eine phyſiſche Wahr-
heit. Wenn aber hingegen man keinen einzigen
Fall in der Natur entdecken kann, wo ſie ſo ver-
fuͤhre, wie in einer Hypotheſe angenommen wird;
wenn dieſe nichts weiter vor ſich hat, als eine bloſ-
ſe Moͤglichkeit, als bloß dieſes, daß ſie keinen Wi-
derſpruch enthaͤlt; alsdann iſt einem Naturfor-
ſcher eine ſolche Hypotheſe ein veraͤchtliches und
unertraͤgliches Ding, und das kommt daher; ſie
harmonirt gar nicht mit dem Begriff, welchen er
von der gegenwaͤrtigen Natur durch Erfahrungen
bekommen hat. Er ſagt alsdann, ich finde gar
nicht den allergeringſten Grund, warum ich dieſe

Chi-
C 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0063" n="41"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">von der Pra&#x0364;delineation.</hi></fw><lb/>
der Luft erdenken; &#x017F;ondern man muß, wie es der<lb/>
Herr <hi rendition="#fr">von Haller</hi> und andere gute Naturfor&#x017F;cher<lb/>
immer gemacht haben, &#x017F;ich nach einem andern a&#x0364;hn-<lb/>
lichen Fall in der Natur um&#x017F;ehn, wo der Wahr-<lb/>
heit leichter beyzukommen i&#x017F;t; hieraus muß man<lb/>
&#x017F;o lange, bis man Beobachtungen beko&#x0364;mmt, die<lb/>
die Sache demon&#x017F;triren, wahr&#x017F;cheinlicher Wei&#x017F;e<lb/>
&#x017F;chließen, daß es &#x017F;ich mit jener unbekannten Sa-<lb/>
che, unfehlbahr eben &#x017F;o verhalten werde. Je mehr<lb/>
man a&#x0364;hnliche Fa&#x0364;lle entdeckt, worin die Natur auf<lb/>
eben die&#x017F;elbe Art verfa&#x0364;hrt, einen de&#x017F;to ho&#x0364;hern Grad<lb/>
der Wahr&#x017F;cheinlichkeit beko&#x0364;mmt die Hypothe&#x017F;e, und<lb/>
wenn man endlich eine ganze Menge dergleichen<lb/>
a&#x0364;hnlicher und zwar wu&#x0364;rklich a&#x0364;hnlicher Fa&#x0364;lle auf-<lb/>
wei&#x017F;en kann, &#x017F;o &#x017F;agt man alsdann, <hi rendition="#fr">es i&#x017F;t der<lb/>
Natur gewo&#x0364;hnlich, &#x017F;o zu handeln,</hi> oder wenn<lb/>
es &#x017F;ehr weit geht, &#x017F;o &#x017F;age man wohl gar es i&#x017F;t ein<lb/>
Ge&#x017F;etz der Natur, nach welchem &#x017F;ie &#x017F;o handeln<lb/>
muß, und die Hypothe&#x017F;e wird eine phy&#x017F;i&#x017F;che Wahr-<lb/>
heit. Wenn aber hingegen man keinen einzigen<lb/>
Fall in der Natur entdecken kann, wo &#x017F;ie &#x017F;o ver-<lb/>
fu&#x0364;hre, wie in einer Hypothe&#x017F;e angenommen wird;<lb/>
wenn die&#x017F;e nichts weiter vor &#x017F;ich hat, als eine blo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;e Mo&#x0364;glichkeit, als bloß die&#x017F;es, daß &#x017F;ie keinen Wi-<lb/>
der&#x017F;pruch entha&#x0364;lt; alsdann i&#x017F;t einem Naturfor-<lb/>
&#x017F;cher eine &#x017F;olche Hypothe&#x017F;e ein vera&#x0364;chtliches und<lb/>
unertra&#x0364;gliches Ding, und das kommt daher; &#x017F;ie<lb/>
harmonirt gar nicht mit dem Begriff, welchen er<lb/>
von der gegenwa&#x0364;rtigen Natur durch Erfahrungen<lb/>
bekommen hat. Er &#x017F;agt alsdann, ich finde gar<lb/>
nicht den allergering&#x017F;ten Grund, warum ich die&#x017F;e<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Chi-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0063] von der Praͤdelineation. der Luft erdenken; ſondern man muß, wie es der Herr von Haller und andere gute Naturforſcher immer gemacht haben, ſich nach einem andern aͤhn- lichen Fall in der Natur umſehn, wo der Wahr- heit leichter beyzukommen iſt; hieraus muß man ſo lange, bis man Beobachtungen bekoͤmmt, die die Sache demonſtriren, wahrſcheinlicher Weiſe ſchließen, daß es ſich mit jener unbekannten Sa- che, unfehlbahr eben ſo verhalten werde. Je mehr man aͤhnliche Faͤlle entdeckt, worin die Natur auf eben dieſelbe Art verfaͤhrt, einen deſto hoͤhern Grad der Wahrſcheinlichkeit bekoͤmmt die Hypotheſe, und wenn man endlich eine ganze Menge dergleichen aͤhnlicher und zwar wuͤrklich aͤhnlicher Faͤlle auf- weiſen kann, ſo ſagt man alsdann, es iſt der Natur gewoͤhnlich, ſo zu handeln, oder wenn es ſehr weit geht, ſo ſage man wohl gar es iſt ein Geſetz der Natur, nach welchem ſie ſo handeln muß, und die Hypotheſe wird eine phyſiſche Wahr- heit. Wenn aber hingegen man keinen einzigen Fall in der Natur entdecken kann, wo ſie ſo ver- fuͤhre, wie in einer Hypotheſe angenommen wird; wenn dieſe nichts weiter vor ſich hat, als eine bloſ- ſe Moͤglichkeit, als bloß dieſes, daß ſie keinen Wi- derſpruch enthaͤlt; alsdann iſt einem Naturfor- ſcher eine ſolche Hypotheſe ein veraͤchtliches und unertraͤgliches Ding, und das kommt daher; ſie harmonirt gar nicht mit dem Begriff, welchen er von der gegenwaͤrtigen Natur durch Erfahrungen bekommen hat. Er ſagt alsdann, ich finde gar nicht den allergeringſten Grund, warum ich dieſe Chi- C 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/63
Zitationshilfe: Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/63>, abgerufen am 06.05.2024.